S O R G E

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E V E L Y N

„Was hast du dir dabei gedacht, Jess?"

Das Unverständnis war deutlich in meiner Stimme zu hören, ich war entsetzt. Wie konnte sie so weit gehen und Peyton in einem Raum einsperren? Kannte sie denn gar keine Grenzen mehr? Mit ihrer Unverfrorenheit hatte sie am vergangenen Freitag doch schon genug angerichtet, aber das war meiner Freundin offenbar noch immer nicht bewusst. Zumindest ließ ihr Handeln, mit dem sie meine Schülerin nun regelrecht zu einem Gespräch zwang, keine anderen Schlüsse zu. Was ist bloß los mit dir, Jess? Ich schüttelte fassungslos den Kopf und fixierte sie. Wie ein Häufchen Elend stand sie da, in Gedanken versunken, und starrte auf den Fußboden.

„Ich wollte mich doch nur für mein dummes Verhalten entschuldigen", hauchte sie bedrückt. „Sie ist mir die ganze Zeit aus dem Weg gegangen, deshalb wusste ich mir nicht anders zu helfen."

Ein Seufzen entschlüpfte meinen Lippen. Seit wann war sie so unbeholfen? Ich ging zu ihr herüber und lehnte mich ebenfalls gegen die Kante des Tisches neben der Tür, die Arme vor mir verschränkt.

„Dass sie dir ausgewichen ist, zeigte doch eindeutig, dass sie zu einem Gespräch noch nicht bereit war", merkte ich an. „Warum muss ich dir das überhaupt erläutern? Normalerweise bist du doch die Einfühlsamere von uns beiden."

Jess senkte betroffen den Kopf.

„Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. So kenne ich mich selbst nicht", wisperte sie und ich hörte, wie die Tränen in ihre Augen stiegen. Kurz darauf flossen sie auch schon über ihre Wangen, woraufhin ich ihre Hand ergriff und sie sanft drückte.

„Hey, hör auf zu weinen", bat ich sie und wischte sie behutsam weg.

„Sie hasst mich jetzt bestimmt", wimmerte sie. „Und ich kann es ihr nicht mal verübeln. Ich habe mich furchtbar verhalten!"

Mitfühlend legte ich einen Arm um meine Freundin.

„Ja, das waren nicht gerade deine Sternstunden", räumte ich ein. „Aber deswegen hasst sie dich doch nicht. Ich denke, dass eher das Gegenteil der Fall ist."

Jess schluchzte leise auf.

„Meinst du wirklich?"

Ihre Unsicherheit brachte mich zum Schmunzeln. Wie konnte ihr das entgangen sein? Es war doch offensichtlich. Du bist so eine Nuss.

„Natürlich", beruhigte ich sie und streichelte ihren Oberarm. „Würde sie sonst derart enttäuscht reagieren? Und vor allem: Würde sie dich sonst vor mir in Schutz nehmen wollen? Ganz sicher nicht."

Jess stieß lächelnd die Luft durch die Nase aus.

„Nein, vermutlich nicht."

„Na siehst du", erwiderte ich und zog sie seitlich an mich. „Du wolltest ihr helfen und hast dabei dummerweise den falschen Weg eingeschlagen – passiert. Lerne daraus und gib ihr etwas Zeit. So wie es aussieht, muss sie wohl erstmal einiges verarbeiten."

Jess nickte gedankenverloren wie ein Wackeldackel auf dem Armaturenbrett eines Autos.

„Ja, du hast recht", murmelte sie, ehe sie sich mir zuwandte. „Danke, Evelyn."

Ich strich ihr eine Strähne aus dem von Tränen verquollenen Gesicht. Auch wenn ich immer noch ein wenig sauer auf sie war, mochte ich sie nicht traurig oder gar weinen sehen. Immerhin war Jess seit Kindertagen meine beste Freundin, daran konnte auch der Mist nichts ändern, den sie verzapft hatte. Ich glaubte sogar, dass nichts daran jemals etwas ändern konnte – wir waren wie Geschwister und ich liebte sie über alles.

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