G E F Ü H L E

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E V E L Y N

Ich muss hier weg. So schnell mich meine Füße tragen konnten, und soweit es meine hohen Schuhe zuließen, stöckelte ich den Gehweg entlang und ignorierte Joannas Rufen nach mir, mit dem sie mich verzweifelt aufzuhalten versuchte. Nachdem ich unfreiwillig Zeugin des Kusses zwischen Peyton und AJ geworden war, wollte ich nur noch eins: Fliehen. Allein sein, am liebsten tagelang. Die weggesperrten Gefühle drohten in einer Sturzflut aus mir herauszubrechen und mich in einen desolaten Zustand zu versetzen, den ich noch nie zuvor erlebt hatte. Ich konnte es spüren. Mein Herz schlug schmerzvoll in der Brust und das Geflecht aus Stacheldraht, in das ich es all die Jahre gehüllt hatte, zog sich auf einmal zusammen, immer enger und enger. Die Uhr tickte, mir blieb nicht mehr viel Zeit bis zum bevorstehenden emotionalen Kollaps. In meinen Augen stiegen bereits Tränen auf und ließen meine Umwelt verschwimmen, während in meinem Hals ein riesengroßer Kloß anwuchs, der meine Atemnot verschlimmerte. Indes geisterte nur eine einzige Frage in meinem Kopf umher. Wie konnte es nur so weit kommen? Zusehen zu müssen wie meine Schülerin eine andere Frau küsste, hatte mich völlig aus der Bahn geworfen. Seit Wochen arbeitete ich daran, meine Vergangenheit und die damit verbundene Angst vor Gefühlen hinter mir zu lassen, um für eine gemeinsame Zukunft frei zu sein. Nun musste ich feststellen, dass es dafür offenbar zu spät war. Ich hatte es vermasselt. All das nur, weil ich zu feige gewesen war und meiner Angst mehr Bedeutung zugesprochen hatte als ihr. Was musste das in ihr angerichtet haben? Scheiße. In diesem Moment dämmerte mir, dass dieser unerträgliche Schmerz nicht nur daher rührte, dass ich sie an AJ verloren hatte. Nein, seinen höchsten Gipfel erreichte er durch die Erkenntnis, dass ich durch mein Verhalten den Eindruck vermittelt haben musste, dass sie mir keinen Schuss Pulver wert war. Dabei bedeutete sie mir so viel mehr als sie ahnte! Und mehr als es mir in dieser Sekunde selbst bewusst war.

„Evelyn!"

Jo packte mich kraftvoll am Handgelenk und brachte mich unversehens zum Stehen, wodurch meine Tränen überschwappten und mir nun über die Wangen liefen. Zunächst versuchte ich sie vor meiner Freundin zu verbergen, indem ich den Kopf senkte, das aufkommende Schluchzen vermochte ich aber nicht zu unterdrücken. Mir fehlte schlichtweg die Kraft dazu. Es kostete mich nämlich unsagbar viel mentale Energie, meine kontrollierte Fassade nach außen hin aufrechtzuerhalten. Energie, die ich nicht mehr hatte, und schon gar nicht in diesem Augenblick.

„Hey", hauchte Joanna und schloss mich in eine weiche Umarmung. „Nicht weinen."

Ich schlug meine Arme um ihren Oberkörper und murmelte schluchzend: „Das war's, ich hab's versaut. Ich hab's komplett versaut, Jo."

Sie streichelte beruhigend meinen Hinterkopf.

„Ach, tatsächlich? Wie kommst du darauf?"

Ernsthaft, JoJo? Verwundert wich ich etwas zurück und schaute sie an, ohne unsere Umarmung zu unterbrechen. Ich wusste nicht, ob sie blind oder einfach nur geistesabwesend gewesen war. Im Coffee Shop stand sie doch direkt neben mir als sich die Beiden geküsst hatten. Wie konnte ihr das entgangen sein?

„Du hast ihren Kuss doch gesehen", behauptete ich und kämpfte abermals mit den Tränen.

Joanna blickte nachdenklich nach oben und summte.

„Hmmm, nein, habe ich nicht", erwiderte sie, bevor sie ernst wurde. „Was ich gesehen habe, war eine junge Frau, die sich Peyton regelrecht aufgedrängt hat. Das war so einiges, aber ganz sicher kein richtiger Kuss, Ev."

Ja, sicher. Ich quittierte ihre zweifelhaften Beobachtungen mit einem Stirnrunzeln, nach meiner Wahrnehmung hatte sich diese Szene anders abgespielt. Wer lag nun falsch: Joanna oder ich? Just als ich meinen Mund öffnete, um meiner Freundin zu widersprechen, untermauerte sie ihre Behauptung:

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