V E R H Ä N G N I S

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E V E L Y N

Dieser Duft. Diese Wärme. Wie lange war es her, dass ich mich so wohl gefühlt hatte? Bestimmt schon eine Ewigkeit. Hatte ich mich überhaupt jemals so gefühlt? Beschützt und geborgen, wie ein Vogel in seinem kuscheligen Nest? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Um diesen Moment noch etwas länger genießen zu können, hielt ich die Augen geschlossen und verweilte in meinem dösenden Halbschlaf. Bis ich einen kräftigen Herzschlag wahrnahm, der nicht mein eigener war. Erschrocken riss ich die Augen auf und hob den Kopf ein wenig an. Wo war ich hier? Die unbekannte Umgebung brachte mich zum Stutzen. Das war nicht mein Schlafzimmer, in dem ich mich befand, und es war auch nicht mein Bett, in dem ich lag. Ich sah an mir herab und erstarrte. Ein Bein über ihre geschoben, lag ich auf Peyton, die seelenruhig schlummerte und dabei sogar dezent lächelte. Mein Gewicht schien sie nicht zu stören, dennoch entzog ich mich vorsichtig ihrer Umarmung und setzte mich auf. Wie war ich überhaupt hierhergekommen? Im fahlen Morgenlicht lauschte ich dem Sprühregen, der gegen das Fenster nieselte, und rief mir die vorigen zwei Tage in meine Erinnerung zurück. Vorfreude und Ungeduld nagten an mir, rissen mich an diesem Freitag hin und her, denn ich konnte es kaum erwarten Peyton wiederzusehen. Nach dem Unterricht wollte ich sofort wieder ins Krankenhaus fahren, doch ich hatte die Rechnung ohne Anita Fitzgerald gemacht. Kurz vor der ersten Unterrichtsstunde war sie vor das Kollegium getreten und hatte um eine spontane Zusammenkunft gebeten. Nein, sie hatte vielmehr darauf bestanden, und damit waren meine Pläne für den Nachmittag dahin. Als ich die Schule dann endlich verlassen konnte, war es schon viel zu spät und die Besuchszeit längst vorbei, sodass ich mich wohl oder übel in Geduld üben musste. Eine Fähigkeit, die mir auf einmal seltsamerweise abhanden gekommen war, ich wäre am liebsten direkt zur Klinik aufgebrochen. Da Peyton bereits zu schlafen schien - zumindest glaubte ich das, weil sie nicht mehr auf meine Nachrichten reagierte -, entschied ich mich dazu, ausnahmsweise früher ins Bett zu gehen. Der Tag hatte mich extrem ausgelaugt, ebenso die Wut über Anitas rücksichtloses Verhalten. Gleich am Morgen würde ich auf der Station anrufen und mich nach ihr erkundigen, das hatte ich mir fest vorgenommen.

Wie der Zufall es so wollte, wurde ich geradewegs an Dr. Thornton weitergereicht, die mich über Peytons Zustand sowie das weitere Vorgehen informierte. Einige abschließende Untersuchungen standen an, und soweit diese in Ordnung waren, konnte meine Schülerin noch am selben Tag entlassen werden. Die Aussicht auf Peytons Entlassung zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Endlich würde sie aus diesem für sie qualvollen Umfeld entkommen, darüber war sie sicher mindestens genauso froh wie ich. Hoffentlich zeigen die Abschlusstestes keine Auffälligkeiten, betete ich in diesem Moment und bat Dr. Thornton sogleich darum, mich zu kontaktieren, sobald es Neuigkeiten gab. Wenn Peyton tatsächlich entlassen werden würde, wollte ich sie unbedingt vom Krankenhaus abholen. Die Ärztin willigte sofort ein, das Schmunzeln war dabei nicht zu überhören, und im nächsten Augenblick war ich selbst verwundert über meine Bitte. Was war los mit mir? Warum war ich plötzlich so überschwänglich, fast schon euphorisch? Diese Frage sollte mich noch den gesamten Vormittag beschäftigen und obwohl ich unentwegt darüber nachdachte, fand ich keine Antwort darauf. Irgendwann gab ich es auf, ignorierte mein rasendes Herz und das Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich an Peyton dachte, und fuhr zur Klinik. Dr. Thornton hatte ihr Wort gehalten und mich tatsächlich angerufen, glücklicherweise mit guten Neuigkeiten. Wenig später saß ich auch schon im Auto und kämpfte mich durch das heftige Unwetter hindurch, das über die Stadt fegte. Es war ein enormes Sicherheitsrisiko, das ich da einging. Die Behörden rieten den Bewohnern sogar, ihre Häuser nicht zu verlassen, so gefährlich waren die Witterungsbedingungen. Doch das konnte mich nicht stoppen. Nichts konnte mich aufhalten, und schon gar kein Sturm. Denn neben dem Verlangen, Peyton wiederzusehen, verspürte ich noch etwas anderes: Das Bedürfnis, meine Schülerin in Sicherheit zu bringen. In dieser Angelegenheit vertraute ich nämlich keinem genug - keinem Bus- oder Taxifahrer, niemandem. Und mein Timing war perfekt, wie ich in aller Bescheidenheit feststellte. Gerade als ich die Einfahrt zur Klinik hindurchfuhr und den Eingang ansteuerte, verließ Peyton das Gebäude. Sie sah erleichtert aus, atmete tief durch und genoss offenbar die frische Luft. Dass sie dabei vom Regen durchnässt wurde, kümmerte sie gar nicht erst. Sie trotzte dem Wetter und erfreute sich erkennbar über ihre zurückgewonnene Freiheit. Das Bild, das sie abgab, war schlichtweg goldig, wodurch sich meine Mundwinkel wie von selbst zu einem Lächeln formten und mein Herz spürbar schneller schlug. Du kannst so süß sein, dachte ich entzückt und machte mit einem Hupen auf mich aufmerksam, woraufhin Peyton erschrocken zusammenzuckte. Sie hatte nicht mit mir gerechnet und war ungewohnt zurückhaltend, beinahe unsicher, was mich zugegebenermaßen wunderte. Normalerweise strotze meine Schülerin vor Selbstsicherheit, doch an diesem Samstag wirkte sie eher schüchtern und nervös. Sie wollte nicht einmal in mein Auto einsteigen und sich lieber ein Taxi rufen. Was soll das, Peyton? Ihr Verhalten irritierte mich zunehmend und ich musste mir eingestehen, dass es mich auch ein wenig enttäuschte. Warum zog sie es vor, im Regen auf ein verfluchtes Taxi zu warten, anstatt mit mir zu fahren?

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