L E E R E

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E V E L Y N

Peyton. Ich war wie erschlagen als sich Joannas Wohnungstür plötzlich öffnete, noch bevor ich überhaupt geklingelt hatte, und ich in ihr hellblaues Augenpaar blickte, das mir mit einer erschreckenden Leere begegnete. Mit so einem unverhofften Aufeinandertreffen hatte ich definitiv nicht gerechnet. Sofort schnürte sich mein Hals zu und mein Herz blutete Sturzbäche in der Brust, denn es war gänzlich verschwunden, Peytons inneres Leuchten. Stattdessen lag eine Emotionslosigkeit auf ihrem hübschen Gesicht, bei der ich eine eisige Gänsehaut bekam. Sie wirkte wie eine Hülle, aus der sämtliches Leben gewichen war, und es war meine Schuld. Ich hatte ihr das Herz gebrochen, nach allem, was sie durchmachen musste. Ich war schuld daran, dass sie mir nun derartig niedergeschlagen gegenüberstand, verlassen von jedem Funken Lebensmut, den sie einst in sich trug. Sie reagierte nicht einmal auf mich, schaute durch mich hindurch und ging einfach an mir vorbei, als existierte ich gar nicht. Es tat weh sie so zu erleben und ich hatte das Gefühl, in tausend Stücke zerrissen zu werden, doch ich hatte es wohl nicht anders verdient. Für Peytons beängstigende Verfassung war schließlich nur ich verantwortlich, ich ganz allein. Dass ich mich mit der Trennung selbst ins Verderben gestürzt hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal bewusst - ich war schlichtweg ein hoffnungsloser Fall.

Traurig sah ich meiner Schülerin nach, atmete ihren unverwechselbaren Geruch sehnsuchtsvoll ein und seufzte schwermütig durch die Nase, bis ich Jos Hand auf meiner Schulter spürte.

„Warte drinnen auf mich, ich bin bald zurück", sagte sie zu mir, bevor sie die Treppe hinunterlief.

Kurz darauf hörte ich wie die Hauseingangstür ins Schloss fiel und betrat Jos Wohnung, begleitet von einem eigenartigen Bauchgefühl. Es war seltsam, ohne sie dort zu sein, ich kam mir vor wie eine Einbrecherin. Eine Einbrecherin mit Einladung. Nachdem ich Jacke und Schuhe ausgezogen hatte, lief ich in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Meine Freundin konnte ich ja nicht danach fragen, sie war damit beschäftigt, Peyton zu folgen - wohin auch immer. Warum war sie überhaupt bei ihr gewesen? Soweit mir bekannt war, verband die Beiden nicht sonderlich viel. Nach dem Überfall im Stadtpark hatte Joanna sie lediglich in ihre Patientenkartei aufgenommen, fortan war sie Peytons Hausärztin. Das war alles, zumindest nahm ich das an. Meine Intuition wies mich jedoch in eine ganz andere Richtung. Eine Richtung, bei der sich meine Nackenhaare aufstellten und die in mir beklemmendes Unbehagen auslöste. Ehe ich mich versah, verließ ich die Küche und schlich durch Jos Apartment, auf der Suche nach Hinweisen. Von der Einbrecherin zur Hobby-Detektivin, und das innerhalb kürzester Zeit. Was für eine steile Karriere ich da hingelegt hatte. Misstrauisch sah ich mich um, scannte jeden einzelnen Zentimeter ihres Zuhauses und blieb abrupt stehen als mein Blick durch die offene Schlafzimmertür auf das ungemachte Bett fiel. Der Anblick rief Übelkeit in mir hervor und mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Nein, sperrte ich mich gegen den schrecklichen Verdacht, der in mir aufkeimte, und begann unruhig umherzuwandern, um mich selbst vom Gegenteil zu überzeugen. Es konnte unmöglich wahr sein, mein Instinkt spielte mir sicher einen Streich. Peyton und Jo? Auf gar keinen Fall, das würde mir meine Freundin nicht antun, niemals! Oder doch? So sehr ich mich auch dagegen wehrte: Die Zweifel blieben, nagten an mir wie Ratten und trieben mich beinahe dazu, Joannas Heim weiter zu durchsuchen.

„Reiß dich zusammen", sagte ich zu mir selbst und ging ins Bad, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, denn ich war kurz davor durchzudrehen.

Was mich dort erwartete, traf mich wie eine Abrissbirne. Ich erkannte Peytons Klamotten, die in einem Wäschekorb lagen, und ein Handtuch auf dem Waschbecken. Jos konnte es nicht gewesen sein, denn dieses hing wie gewohnt über dem Handtuchtrockner. Jemand anderes hatte es benutzt. Nicht irgendjemand, sondern meine Schülerin. Das darf nicht wahr sein. Bestürzt ergriff ich die Flucht und ging ins Wohnzimmer, wo ich mich wie benommen auf dem Sofa niederließ. Umgeben von Peytons Parfüm, das sich mit dem für Joannas Wohnung typischen Spa-Geruch vermischt hatte, kämpfte ich gegen mein Kopfkino an, das mir eindeutige Szenen zeigte. Szenen, die mich ungemein quälten. Unmöglich. Nein, nein, nein! Ich krümmte mich zusammen, stützte mich mit den Händen auf meinen Oberschenkeln ab und konzentrierte mich auf meine Atmung. Bis ich schließlich hörte, wie ein Schlüssel ins Wohnungstürschloss gesteckt und herumgedreht wurde. Mit all der Selbstbeherrschung, die ich aufbringen konnte, richtete ich mich auf, legte den Kopf in den Nacken und holte tief Luft, da betrat meine Freundin auch schon lächelnd das Wohnzimmer.

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