B E S T I M M U N G

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E V E L Y N

Unnötige Fehler, so unnötige Fehler! Tief seufzend legte ich meinen Rotstift ins Mäppchen, stemmte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und faltete die Finger. Ich nutzte meine Freistunde, um im Lehrerzimmer die Mathetests meiner Schüler zu korrigieren, deren Ergebnisse bisher nicht besser als „befriedigend" ausfielen. Die Ansätze waren stets richtig, doch auf dem Rechenweg zur Lösung passierten noch immer zu viele Flüchtigkeitsfehler. Warum das so war, konnte ich mir bei bestem Willen nicht erklären. Möglicherweise war der Druck der Testsituation zu groß für sie, denn die Rechnungen erweckten bei mir nicht den Eindruck, dass sie sich nicht vorbereitet hatten. Davon einmal abgesehen, hatten wir das Themengebiet mehrere Wochen lang behandelt, inzwischen musste es ihnen aus den Ohren heraushängen.

„Das müssen wir wohl nochmal üben", murmelte ich vor mich hin und warf einen Blick auf meine Armbanduhr.

10:21 Uhr. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu Peyton, die in diesem Moment im Sportunterricht meiner Erzfeindin Helena Welsh ausgesetzt war. Die Vorstellung machte mich nervös. So nervös, dass ich unruhig auf meinem Stuhl herumrutschte und meine Handflächen zu schwitzen begannen. Hoffentlich ging das gut. In meinem Kopf malte ich mir die schlimmsten Horrorszenarien aus, was beißendes Unbehagen in mir weckte und meine Nervosität ins Unermessliche steigen ließ. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, doch was konnte ich schon dagegen unternehmen? Anita höchstpersönlich hatte sie als Kim Wilsons Vertretung akquiriert, damit musste ich mich wohl oder übel abfinden. Das Einzige, was ich tun konnte, war sie im Auge zu behalten und unauffällig von meiner Schülerin fernzuhalten. Wie ich das anstellen sollte, ohne in meiner Kollegin auch nur den Hauch eines Verdachts zu erwecken, war mir selbst zwar noch ein Rätsel, aber mein Entschluss stand fest: Ich musste Peyton vor ihr beschützen, egal, was es mich kosten würde. Zieh dich warm an, Welsh, knurrte ich innerlich und schob meinen Stuhl etwas zu schwungvoll Stuhl zurück, der daraufhin ins Wanken geriet und beinahe umgefallen wäre. Unglaublich, welche Aggressionen diese Frau noch immer in mir hervorrufen konnte, und das nur weil sie existierte. Ich hasse sie so sehr.

Wütend schnaubend schnappte ich mir mein Portemonnaie und meinen Mantel. Ich brauchte einen Kaffee, einen guten Kaffee und nicht die Filter-Plörre aus dem Lehrerzimmer. Glücklicherweise verfügte die Cafeteria über einen soliden Vollautomaten, der einen einigermaßen genießbaren Espresso zubereiten konnte. Nichts ahnend öffnete ich die Tür und stoppte meine Bewegung augenblicklich als ich Peyton geistesabwesend über den Flur laufen sah. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde bis mein Herzschlag astronomische Höhen erreichte, bei denen einem schwindelig werden konnte. Ich musste sie nur ansehen und schon meldete sich das Kribbeln in meinem Bauch zurück, das einzig und allein meine Schülerin in mir auslösen konnte. Diese hatte mich noch nicht bemerkt, was mir etwas Zeit verschaffte, um sie näher betrachten zu können. Sie ist so unfassbar hübsch. Zu ihrem neongelben, ärmellosen Hoodie, der unter den Achseln weit ausgeschnitten war, trug sie enge, schwarze Shorts, die ihre schlanken, definierten Beine betonten. Nichts besonderes, mochte manch einer denken, doch mich stürzte ihr Anblick geradewegs in ein Wechselbad der Gefühle. Wie Regentropfen rieselten sie auf mich hinab - sanft und wohlig warm -, was es mir erschwerte sie genau zu erfassen oder gar zu benennen. Mittlerweile versetzte mich dieser Zustand aber nicht mehr in Panik, nein, ich genoss ihn in vollen Zügen, wodurch sich unbewusst ein Lächeln auf meine Lippen schlich. So leicht wie es gekommen war, so schnell schwand es auch wieder als ich die Wunde an ihrem rechten Knie registrierte. Das Blut rann bereits ihr Schienbein herunter, wodurch sie ihr Tempo vorsichtig verlangsamte, vermutlich um keine Schweinerei auf dem Boden zu hinterlassen.

„Peyton", wisperte ich erschrocken, womit ich ihre Aufmerksamkeit erregte und sie circa drei Meter von mir entfernt abrupt stehen blieb.

Sekunden vergingen. Sekunden, in denen wir einander anstarrten ohne ein einziges Wort zu sprechen. Während meine Züge spürbar von nichts als Sorge gezeichnet waren, war Peytons Gesichtsausdruck so undurchdringbar wie eine Maske. Letztlich waren es ihre wunderschönen Augen, die sie verrieten. Der Spiegel ihrer Seele, der mir nichts anderes zeigte als dieselbe Sehnsucht, die mich seit Tagen plagte. Lange währte dieser Moment jedoch nicht, sie unterbrach unseren innigen Blickkontakt als sie merkte, dass das Blut unaufhaltsam in Richtung Fußboden lief.

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