E R W A C H E N

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E V E L Y N

„Was ist, wenn es funktioniert? Was ist, wenn Peyton Ihre große Liebe ist und Sie die Chance auf ein glückliches Leben mit ihr verpassen, weil Sie sich nur auf das Worst-Case-Szenario konzentrieren?"

Gefühle zu haben und sie zu zeigen ist keine Schwäche, es ist der Schlüssel."

„Wenn es holprig wird, steigt man nicht aus, sondern schnallt sich an!"

„Seid still, seid doch endlich still!"

Verzweifelt kniff ich die Augen zusammen und rieb mir die Schläfen, während ich gefühlt immer tiefer in dem Sofakissen versank. Ich konnte sie partout nicht aus meinen Gedanken verbannen, die klugen Weisheiten von Joanna und meiner Therapeutin. Überraschenderweise mischte sich selbst Alexis' Äußerung unter das Stimmenwirrwarr, was dem Ganzen noch die Krone aufsetzte. Ausgerechnet Alexis! Was hatte sie in meinen Gedanken zu suchen? Verlor ich allmählich den Verstand? War das die Vorstufe zum geistigen Zusammenbruch, oder waren die drei Gläser meines teuersten Cabernet Sauvignon die Wurzel dieses Übels? Als hatte mich der Tag nicht schon genug Kraft gekostet! Der Schlafmangel in Verbindung mit der anhaltenden seelischen Erschütterung zeigte seine Wirkung, ich war das reinste Nervenbündel. Hin und her rissen mich meine Gefühle, meine Welt war völlig aus den Fugen geraten und ich drohte endgültig die Kontrolle zu verlieren. Dieser Zustand setzte mir enorm zu, es fühlte sich an wie Ertrinken - Ertrinken in einem Meer aus dunkler Panik, fortgerissen von den stürmischen Wellen meiner Emotionen. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Ich konnte aufgeben und mich einfach in die Tiefe ziehen lassen, oder ich kämpfte und versuchte mir einen Weg zurück an die Oberfläche zu bahnen. In meiner desolaten Verfassung neigte ich dazu, mich widerstandslos treiben zu lassen und die Sehnsucht nach Peyton schlichtweg zu verdrängen. So lange bis es nicht mehr wehtat sie zu vermissen. Es war ohnehin aussichtslos, meine Vergangenheit wog zu schwer und die Angst hielt mich zu fest in ihren Fängen, als dass ich sie besiegen konnte. Dr. Copeland leistete großartige Arbeit, sie war eine äußerst kompetente Therapeutin, doch ich kam nicht umhin mich unaufhörlich zu fragen, ob sie mir wirklich weiterhelfen konnte. Ob ich mich durch die Sitzungen wirklich von den Ketten befreien konnte, die seit Jahren mein Herz umschlossen. Vielleicht hatte das Schicksal ganz andere Pläne mit mir, gegen die ich nichts ausrichten konnte, egal wie sehr ich mich anstrengte. Vielleicht war ich dazu verdammt, für immer allein zu sein. Möglich wär's, dachte ich finster. Im selben Moment meldete sich meine Skepsis bezüglich Peytons Verhältnis zu AJ zurück, sie kroch in mir hoch wie eine Armee roter Ameisen. Kribbelnd. Juckend. Widerlich zermürbend. Warum ausgerechnet jetzt, während ich über das Alleinsein grübelte? War das ein Zeichen? Die Bestätigung dafür, dass ich mit meiner Zukunftsaussicht richtig lag und meine Bemühungen auf Eis legen sollte? Bei der Vorstellung zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen, worüber ich mich furchtbar ärgerte. Diese Schwäche, diese armselige Gefühlsduselei und die Selbstzweifel sahen mir überhaupt nicht ähnlich. Evelyn Langley, der Eiskönigin, konnte nichts und niemand etwas anhaben, niemals! Ich war unverwüstbar wie eine Festung, hart wie Granit, an dem man sich die Zähne ausbiss. Warum konnte ich Peyton damit nicht auf Abstand halten? Wie konnte es so weit kommen, dass sie mir so nahe kam und unverwischbare Spuren in mir hinterließ, die mich nun so sehr quälten? Wie konntest du es wagen, Peyton?

„Nein, nicht mit mir", wehrte ich mich dagegen, jedoch ohne Erfolg.

In dieser Angelegenheit hatte die Macht meiner Gedanken an Gewicht verloren, stattdessen spürte ich, dass etwas anderes in mir die Oberhand gewonnen hatte. Etwas, das weitaus stärker war als ein bloßer Gedanke in meinem Kopf. Mein gesamtes Sein wurde kräftig durcheinander geschüttelt, als steckte ich in einer irren Achterbahn fest, doch es schärfte meinen Blick auf mich selbst. So als fielen Puzzleteile an ihren richtigen Platz. Plötzlich sah ich alles viel klarer, plötzlich ergab sich ein Bild vor meinen Augen. Mir dämmerte, dass ich einem Irrtum erlegen war. Ich war alles andere als eine Festung, alles andere als eine Eiskönigin - ich war ein Mensch. Ein Mensch mit Schwächen, mit Fehlern und Gefühlen, der sich aus Selbstschutz jahrelang hinter einer Fassade versteckt hatte. Auch wenn ich sämtliches Unheil damit erfolgreich von mir fernhalten konnte, brachte diese selbst errichtete Mauer auch einen erheblichen Wermutstropfen mit sich: Sie beschützte mich zwar, hüllte mich gleichzeitig aber in bittere Einsamkeit. Bis auf Joanna, Jess und Albert hatte sich niemand getraut, über diese Mauer zu klettern. Niemand, bis auf Peyton. Wie hatte sie das bloß gemacht? Das bringt doch nichts, du findest die Antwort sowieso nicht. Kopfschüttelnd verwarf ich die Grübelei, die bereits in den Startlöchern stand, und trank mein Weinglas leer. Eine gemeinsame Zukunft erschien mir unmöglich, schließlich war sie meine Schülerin. Das konnte nicht funktionieren, nie im Leben! Zeitverschwendung, mehr war es nicht. Ich sollte nach vorn schauen, Peyton ganz einfach in AJs Hände übergeben und in Frieden weiterleben. Ohne Probleme und vor allem ohne nervige Gefühle. Als ich mich aufsetzte, um mir etwas Wein nachzuschenken, signalisierte das Vibrieren meines Smartphones, dass ich eine Nachricht erhalten hatte. Auf dem Display erschien Jess' Name, doch es war keine normale Textnachricht. Sie hatte mir lediglich eine Datei geschickt, ohne ein einziges Wort dazu zu schreiben.

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