Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Sommer
Titanengrab, Zwergenreich
Als die Sonne tief am Himmeln hing, brachen sie ihr Lager ab und setzten ihre Reise fort. Thorgest hatte sein Versprechen gehalten und nicht weiter nach ihren Wunden gefragt.
„Was wollt Ihr eigentlich in Myrar?", wollte Iora nach langem Schweigen wissen, in dem sie beide ihren Gedanken nachhingen.
„Oh, ich bin nur auf der Durchreise dort. Meinen Proviant aufstocken, den du mir so eifrig aufisst." Er grinste sie verschmitzt an. „Außerdem bin ich dort mit einer alten Freundin verabredet. Ich hoffe, sie erkennt mich noch. Das letzte Mal hatte ich noch etwas mehr Haare."
Er führte den Esel und sie ging neben ihm her.
„Zum einen, werde ich an einem Tag wohl kaum so viel essen, wie Ihr, zum anderen wird sie sich doch wohl an euer Gesicht erinnern", gab Iora zurück.
„Ich hoffe es. Nicht, wenn sie wieder einen zu heftigen Schlag abbekommen hat. Sie wusste drei Tage lang nicht mehr, wer ich bin oder warum sie unter der Erde in einer Stadt im Stein war. Sie hat sogar versucht, mich mit einem Messer zu erstechen." Er musste lachen, doch die Elfe war sich nicht sicher, wie ernst er es vielleicht doch meinte.
„Sagt, kommt das öfter bei ihr vor?", wollte sie wissen, nachdem sie nach kurzer Überlegung zu dem Schluss gekommen war, dass es wohl stimmen müsste.
Er war noch immer erheitert von der Erinnerung. „Dass sie tatsächlich etwas vergisst, nein. Aber sie war schon öfter zu langsam, einem Schlag auszuweichen. Zum Glück waren es noch keine Schwerter oder Äxte, Götter bewahren."
„Vielleicht solltet ihr besser auf sie aufpassen", meinte sie und grinste ihn an.
„Oh, wenn ich das könnte."
Ihr Nachtlager schlugen zwischen einem gewaltigen Felsen und der Schlucht, der sie die letzten Stunden gefolgt waren auf. Gemeinsam errichteten sie ein Zelt und verstauten, was sie hatten darin. Dann schickte Thorgest sie, Feuerholz zu suchen, was hier leichter gesagt als getan war. So fand sie hauptsächlich dürres Gestrüpp, dass die Götter wohl dafür geschaffen hatten, sowohl der kargen Umgebung, als auch ihr standzuhalten. Doch schließlich kam sie mit zwei Armen voll Zweigen zurück zu ihrem Lagerplatz.
Zur Begrüßung reichte ihr der Zwerg einen Becher. Sie legte das Holz ab und nahm ihn dankend entgegen. Sie nahm den ersten Schluck und verzog das Gesicht. „Das ist kein Wasser."
Der Zwerg musste lachen. „Nein, nein. Es war ein langer Tag. Du hast dir mehr verdient. Trink", forderte er sie auf. Bei ihrem zweiten Schluck war sie darauf gefasst. Es war süß wie Honig, doch bitter, wenn sie es schluckte.
„Wie alt bist du jetzt? Siebzehn? Achtzehn? Ich denke, ich kann dir von meinem Met geben", meinte er, als er sich selbst etwas aus einer Flasche in einen Becher schenkte. „Meine letzte Flasche, aber ich denke, den Rest des Weges sollte ich auch ohne schaffen. Und man sollte sich die Gelegenheit mit neuen Freunden zu trinken, nicht entgehen lassen."
Er nahm einen gewaltigen Zug und leerte seinen Becher.
„Und guten Zwergenmet teile ich gerne mit denen, die meine Gesellschaft zu schätzen wissen."
Flasche und Becher stellte er auf den Boden, dann schichtete er die Zweige auf und betrachtete zufrieden sein Werk. Iora beobachtete ihn dabei und trank mit kleinen Schlucken von ihrem Met. Schließlich setzte er sich davor, hielt einen der Zweige in seiner Hand und schloss seine Augen. Rauch stieg erst zwischen seinen Fingern und dann von der Feuerstelle vor ihm auf. Er beeilte sich, das Holz zurück zu legen und schon schlug auch die erste Flamme nach oben.
Die Augen der Elfe wurden groß. „Wie habt ihr das gemacht? Könnt ihr mir das beibringen?"
Das war unmöglich, es gab keine Magier mehr. Seit dem Götterkrieg war die Lehre verboten und
einigen Gerüchten zufolge, die sie in Ardport aufgeschnappt hatte, machte sogar die Inquisition Jagd auf Magier, wenn sie von einem erfuhren. Das wissen musste längst ausgestorben sein.
Dass sie einen Meister gehabt hatte, war schon eine Unmöglichkeit gewesen. Gab es tatsächlich noch andere? Solche, die ohne Blut weben konnten? „Ihr müsst es mir beibringen!"
„Das ist nur ein kleiner Trick. Bei Gelegenheit werde ich dir erklären, wie ich es mache. Ich kann dir aber nicht versprechen, dass es bei dir auch funktioniert."
Sie setzte sich neben ihn an das Feuer. „Ich dachte es gibt niemanden mehr, der Magie weben kann."
„Oh doch, es gibt sie noch. Auch, wenn es nicht mehr viele sind", raunte er in verschwörerischem Ton, doch dann sah er wieder auf das Feuer und sprach in traurigem Ton weiter: „Es sind viel zu wenige. Es gab einst so viele von ihnen. Sie schufen wahre Wunder. Sie waren den Göttern so nahe und der ein oder andere verfiel auch der Versuchung, sich selbst zu einem zu erklären, aber alles in allem ist die Welt ärmer ohne sie. Die Narben des Götterkrieges tragen wir allem mit unser herum."
Damit hatte er ihren Enthusiasmus deutlich gedämpft. Mit einem weiteren Schluck Met versuchte sie sich davon abzulenken.
Während Thorgest aus einer Tasche Brot und Käse fischte, wollte Iora von ihm wissen: „Ihr wisst also von der Zeit vor dem Götterkrieg?" Die Frage kam verhalten und sie hatte auch mit sich gerungen, ob sie die Frage tatsächlich stellen wollte. „Wie war es? Wie war die Welt voller Magie?"
Er reichte ihr etwas von dem Brot und ohne von seiner Arbeit aufzusehen, als er an dem Käse schnitt, fing er an zu erzählen: „Man sagt, es war die Zeit der Götter, der Torwächter und der großen Helden. Auch heute noch wenden wir uns an die Götter, beten zu ihnen, wenn wir Rat brauchen, uns ihren Segen wünschen, den Weg nach Hause nicht finden oder ihren Schutz brauchen. Wir hoffen, dass sie uns hören und sich uns erbarmen. Aber können wir uns sicher sein, dass sie da sind? Damals war es anders. Es heißt, man konnte sie um sich fühlen. Nomdatir in den Felsen, Bergen und der Erde um uns, Dhadia in den Flüssen, Seen und dem Ozean im Süden, Haphas in den Feuern und der Sonne, Irdorath in einem warmen Sommerwind oder einem gewaltigen Sturm, wenn sie auf die Jagd ging. Es war eine Welt, in der die Götter lebten, eine Welt, die durch sie lebte. Wenn du in das Feuer schaust, siehst du sie? Haphas? Indeera? Naarus? Tarnath?"
Er reichte ihr ein Stück Käse und schien auf ihre Antwort zu warten. Die Elfe biss in ihr Brot und schaute auf das Feuer. Die Flammen fraßen gierig an den Zweigen. Eine dünne Rauchfahne tanzte darüber in der heißen Luft. Funken schwebten empor und fielen langsam wieder zu Boden. Doch es war nur ein Feuer. Nichts Göttliches war ihm inne.
„Nein...", gab sie enttäuscht zurück. Sie hatte es sich gewünscht.
„Ich auch nicht." Er seufzte. „Ich würde viel dafür geben, sie zu spüren. Sie haben sich schon so langen nicht mehr auf dieser Welt gezeigt, die Leute fangen an, sie zu vergessen. Finden neue Götter."
Sie setzten ihr Abendmahl schweigend fort, bis Iora eine andere Frage einfiel, die ihr bis dahin nicht in den Sinn gekommen war: „Wer seid ihr eigentlich? Ihr wandert alleine hier draußen, versteht euch auf Heilung oder tut zumindest so, webt Magien, sprecht von alten Zeiten und habt magische Symbole auf Eurer Haut."
„Ich bin nur ein wandernder Medicus, der vielleicht etwas zu viel gelesen hat", gab er ihr mit einem Lächeln Antwort. „Aber Kind Irdoraths, wer bist du?"
Sie überlegte lange. „Niemand. Jetzt nicht mehr."
In dieser Nacht weinte sie. Weinte um ihr altes Leben. Weinte ob des Verrats. Um den Mann, von dem sie glaubte, ihn gekannt zu haben. Um eine Welt, der die Farben zu fehlen schienen. Weinte ob der Scham, die in ihr brannte, ihre Seele zerfraß. Und um ihrer selbst, die sie nicht mehr war, nicht mehr sein konnte.
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Weltentod
FantasyDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...