LXXXIV - Ertappt

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Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Herbst

Rúnknǫttr, Titanengrab


Das Siegel brach und das Licht der anderen Seite flutete den Korridor. Iora fühlte sich wie das erste Mal, als sie die Bibliothek betreten hatte. Für einen Augenblick überschwemmt davon, was die Bücher ihr entgegen schrien. Blind für die Welt darunter und mit ihrem Geist in der darüber.

Ihr Herz überschlug sich. Sie wollte in sich aufnehmen, was dieser Ort barg. Wollte es einen Teil von ihr machen. Es war, als hätte sie seit Tagen nicht gegessen und jemand kochte vor ihren Augen. Sie roch es. Sie konnte es schmecken, bevor der erste Bissen ihre Zunge berührte. Sie kostete sie unmengen Kraft ihrem Verlangen zu widerstehen. Sie sehnte sich nach der Berührung von Haut und Papier. Dem Geruch von Pergament. Dem süßen Geräusch der Seiten.

Sie riss sich zusammen. Wie lange hatte sie da gestanden? Hatte sie jemand gesehen? Niemand hatte sie angesprochen oder etwas gerufen, also wahrscheinlich nicht. Hoffentlich nicht.

Sie huschte durch die Tür und schloss sie hinter sich. Sie wusste, wie sie sie öffnen konnte, also war es besser, keine Spuren zu hinterlassen.

Sie hatte also den Turm erreicht. Was nun? Sie hatte sich immer noch nicht entschieden: Nach oben oder nach unten? Hätte sie mehr über die Bibliothek gewusst, wäre es leichter gewesen, so musste sie nach purem Instinkt gehen. Es war ein altes Bauwerk der Zwerge, also... nach unten.

Es war wenig los. Selbst hier. Vereinzelt sah sie nur jemanden lesen oder Bibliothekare ihre Arbeit verrichten, Bücher zu suchen oder wieder an ihren angemessenen Platz in diesem Chaos zurückzustellen. Iora machte einen gewaltigen Bogen um sie alle. Lieber irrte sie durch das Labyrinth aus Regalen, als einem von ihnen zu begegnen. Sie war sich nicht einmal sicher, woher diese Paranoia kam, doch der Gedanke, hier gesehen zu werden, stellte ihr die Haare im Nacken auf. Sie zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht.

Sie nahm die erste Treppe nach unten. Wenn sie richtig gezählt hatte, noch neununddreißig weitere Etagen. Sie sah sich um. Drei weitere konnte sie nehmen, bevor sie wieder ausweichen musste, dann war die Treppe in freier Sicht eines Bibliothekars, der gerade damit beschäftigt war, einige Schriftrollen in ein Regal einzusortieren.

Sie nahm eine Rampe auf der anderen Seite des Schachtes. Sie wand sich abwärts, immer im Schatten, wo sie konnte. Verschwand dazwischen immer wieder im Labyrinth, nur um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Selten da, wo sie erwartet hatte. Und oft genug lief sie in eine Sackgasse.

Je tiefer sie abtauchte, umso deutlicher wurde das Gefühl, dass sie nach etwas suchte. Sicher war sie sich nicht, was es war, doch es zog an ihr. Wie ein Buch danach verlangte, seine Geheimnisse preiszugeben, so verlangte es ihr danach, zu erfahren, was dort unten war. Was auch immer es war, was sie dort unten finden würde, es wäre das, was ihr Leben vervollständigen würde, davon war sie überzeugt. Es konnte nicht anders sein. Nichts anderes würde an so einem Ort verwahrt, nichts anderes könnte sie so anziehen. Der Gedanke, dass es etwas mit ihrer neu eingegangenen Verbindung zu tun haben könnte, kam ihr erst sehr nahe dem Grund des Schachtes und zu diesem Zeitpunkt war sie schon der Neugierde verfallen.

Noch acht Etagen. So weit unten waren die Bücher älter. Erhabener. Erfahrener. Besaßen eine Würde, die die neu geschriebenen Exemplare oben nicht aufwiesen. Sie waren weniger eifrig.

Als sie sich im Labyrinth versteckte, nahm Iora eines aus dem Regal. Es hatte keinen Titel, lediglich einen abgegriffenen, grünen Ledereinband mit einem Baum darauf. Darin befanden sich Zeichnungen von Pflanzen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und Text in einer Sprache, die sie nicht lesen konnte. Zwei Bücher weiter stand ein alter Magierkodex. Iora hörte noch immer Schritte und so zog sie auch diesen aus dem Regal. Der Foliant war doppelt so dick wie ihr Unterarm und von der ersten bis zur letzten Seite beschrieben. Er beinhaltete Tagebucheinträge, Berichte über die Reise dieses längst vergessenen Magiers und seine Forschungsarbeit. Diagramme und Notizen zu Zaubern. Gelungene Experimente und fehlgeschlagene mit Hypothesen, was falsch gelaufen war. Wer auch immer er oder sie gewesen war, sie musste ein weit besseres Verständnis über die natürliche und übernatürliche Welt besitzen, als Iora es in einem Leben für möglich hielt. Hätte sie die Zeit gehabt, sie hätte dieses Buch auswendig gelernt. Jeden Zauber und jede Information über diese längst vergangene Welt. Und sie hätte den nächsten Kodex gesucht. Und den nächsten. Und sie hätte gelernt, was all die vor ihr wussten und sie würde sie übertreffen. Und dann waren da keine Schritte mehr.

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