XIX - Unterwelt

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Jahr 351 nach dem Götterkrieg, Sommer

Merun, Hauptstadt des Kaiserreichs


Erst bis zu den Knien. Später bis bis zur Hüfte. Jetzt stand ihr das Wasser fast bis zur Brust. Ihre Schwerter und ihren Packen trug Giræsea jetzt in ihren Armen vor sich. Die Höhle um sie war dunkler als die Nacht. Keine Monde. Keine Sterne. Ohne die leuchtenden Pilze, die sie mit sich trug, hätte sie nichts gesehen. Doch es gab auch nichts zu sehen. Glatt geschliffener Stein zu allen Seiten und Wasser. Die Ruhestätten der Toten hatte sie bereits hinter sich gelassen. Seitdem war es unmöglich gewesen zu sagen, wie weit sie gekommen war oder wie lang sie schon hier war. Es waren sicher zwei Stunden, aber ihr Leben hätte sie nicht darauf verwettet. Wenn es die Unterwelt gab, mochte dies ihr Eingang sein. Was bei allen Göttern trieb eine lebende Seele hier hinunter? Eine Frage, die sie sich ebenso gut selbst stellen konnte.


Der Tunnel wurde schmaler und mit jeder Handbreit, die die Wände näher kamen, floss das Wasser schneller. Während sie zu beginn noch mit ausgebreiteten Armen zweimal hindurch gepasst hätte kam sie jetzt gelegentlich mit ihren Ellenbogen gegen den Fels.

Es zerrte an ihr; zog sie tiefer in die Eingeweide der Welt. Warum? Warum schickst du mich hinab in die Unterwelt?


Sie hatte Zeit für ihre Gedanken. Denn nichts anderes gab es hier: sie und ihren Geist.

Hätte sie Thorgest erzählen sollen, wohin sie gegangen war? Er hatte sich damit zufrieden geben, als sie ihm gesagt hatte, dass sie den Irren suchen würde. Wäre es besser gewesen, wenn er gewusst hätte, wo sie nach ihm suchen würde?

Und Iora? Sie wusste es. Gesagt hatte Giræsea es ihr nicht, doch sie wusste es. Sie hatte keinen Zweifel, dass die Elfe es nicht irgendwie erfahren hatte.

Sie wünschte sich, sie wäre jetzt nicht allein. Lieber wäre sie oben in der Stadt mit Iora. So hektisch es dort auch war. Was sie wohl in dem Buch gefunden hatte? Oder fast noch wichtiger: Wo sie es her hatte?

Dieses Grinsen, die Freude. Es musste etwas gutes gewesen sein. Hoffentlich brachte sie sich damit nicht wieder in Schwierigkeiten.


Und dann war sie gefangen. Ihr fehlte die Luft. Umschlungen. Kein Halt. Ihr Körper schrammte über nassen Stein. Allgegenwärtiger Stein. Ihre Arme waren ihr über den Kopf gerissen worden. Der Packen war fort. Der unglaubliche Lärm. Schwärze. Auch ihre Leuchtpilze waren fort. Schmeckte sie Blut? Ihr Atem wurde knapp. Sie war nicht vorbereitet. Nichts als Wasser und das Gefühl des Steins, wenn sie dagegen schlug. Es gab nichts, was sie tun konnte. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, ihrem Körper klare Befehle zu geben. Dann - für einen Augenblick - Luft. Für den kürzesten Moment eine andere Sensation als allgegenwärtiges Wasser. Sie drehte sich? Kein Stein mehr. Sie fiel. Ein Aufschlag und sie kämpfte um ihr Bewusstsein.

Da war es wieder, das Wasser. So allumfassend. In diesem Moment war ihre ganze Welt flüssig. Doch... Sie rang sich einen klaren Gedanken ab. Ihr Herz raste in ihrer Brust. Ihre Knochen schmerzten. Ihre Haut brannte, wo sie aufgeschürft war. Doch ein klarer Gedanke: es gab eine Oberfläche. Sie brauchte Luft. Sie hatte ein Ziel.

Ein Ziel half einem, nicht zu sterben. Es gab einem etwas zu tun. Eine gerade Linie. Die Oberfläche erreichen. Sie riss ihren Kopf herum und versuchte sich zu orientieren. Dunkel. Schwarz. Nacht. Überall um sie. Sie hatte keinen Atem mehr. Jede Sekunde, die sie nicht wusste, wohin sie musste, brachte sie näher an ihr Ende.

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