LXXXVII - Von Wissen und Wahn

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Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Herbst

Rúnknǫttr, Titanengrab


So tief in der Bibliothek traf sie auf niemanden mehr. Die Bibliothekarin war die letzte Seele, die ihr begegnet war, bevor sie die verbotenen Ebenen erreicht hatte. Ein Tor und drei weitere Ebenen trennten sie vom Grund des Schachtes.

Es war still hier. So unglaublich still. Selbst die Schritte einer Elfe hallten laut durch die Gänge zwischen den Bücherregalen. Sie erschrak ein jedes Mal, wenn das Echo eines fernen Geräusches aus den oberen Ebenen seinen Weg zu ihr fand. Sie zuckte zusammen. Sah sich panisch um. Und als sie dann doch niemanden in der Dunkelheit sah, zwang sie ihren Herzschlag dazu, sich zu beruhigen.

Gedankenverloren fasste sie sich an die Lippe. Es war alles gut. Es war nichts geschehen. Alles war gut. Selbst, wenn sie jemandem davon erzählen würde, bis dahin war Iora längst weg. Alles war gut. Sie musste nur finden, was am Grund des Schachtes auf sie wartete. Dann konnte sie verschwinden und all das war nie passiert. Sie würde in die Herberge zurückkehren, zu Giræsea und Thorgest. Sie würde ihnen nichts davon erzählen. Und schon in ein paar Tagen waren sie weit weg von Rúnknǫttr und der Bibliothek.

Und doch der Geschmack von Blut... Er war echt auf ihrer Zunge wie jetzt der Stein unter ihren Schuhen.

Nein... Nein. Sie hatte sich das eingebildet und damit Ende. Sie schob es beiseite. Es war leicht. Sie wurde immer tiefer gezogen und war nur allzu dankbar, sich wieder auf die Vorfreude zu konzentrieren. Welches verbotene Wissen wurde so tief in der großen Bibliothek aufbewahrt? Die Antwort blieb offen.

Das Tor, das nun ihren Weg versperrte, war fast identisch zu dem, dass ihr beinahe den Zugang zur Bibliothek verwehrt hätte. Am liebsten hätte sie es umgangen, doch so tief gab es keine Brücken und Rampen mehr, nur noch geordnete Wege außen in den Ringen. Überhaupt herrschte hier weit mehr Ordnung als noch weiter oben. Die oberen Ebenen hatten sich - wie auch Rúnknǫttr selbst - wie etwas lebendiges angefühlt. Es war nach den Bedürfnissen der Bewohner gewachsen. Hier ein Gang, eine Brücke, eine Treppe. Hier wurden Regale in verschlungenen Wegen aufgestellt, die plötzlich in einer Sackgasse endeten, weil ein Platz für ein Regal gefunden werden musste und die Sektion doch Platz für mehr Bücher bieten musste, als wohl ursprünglich angenommen.

Hier unten war es anders. Hier unten herrschte Ordnung. Hier spürte Iora die leitende Hand eines Architekten - einen Plan. Logik und Symmetrie. Hier war es leicht, den Weg zu finden. Doch es bedeutete auch, dass es ihr nicht möglich war, dieses verfluchte Tor zu umgehen.

Sie hatte es schon einmal getan diese Nacht. Es konnte nicht so schwer sein. Sie suchte die Runen und fand sie. Eneer, Hinee und der Berg dazwischen. Jetzt, wo sie wusste, was sie zu tun hatte, war es deutlich einfacher.

Sie öffnete das Tor, wie auch schon das davor und als die Flügel langsam aufschwangen, war sie euphorisch. Fast wäre sie losgerannt.

Die nächsten Treppen hatte sie sofort überwunden. Die Etagen waren auch nicht höher als die bisherigen. Bis sie die letzte Treppe erreichte, die sie auf den Grund des Schachtes bringen würde. Sie schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Kerzengerade verlief sie nach unten. Kein leichter Bogen wie die letzten, der sie wissen ließ, dass sie den Schacht umrundete. Diese Treppe stieß unerbittlich gerade in den Fels hinein. Weg vom Zentrum der Bibliothek.

Zweifel kamen ihr jedoch keine großen. Die Treppe war an der gleichen Stelle, wie sie immer gewesen war und wenn sie über die Brüstung schaute, war dort unten der Boden des Schachtes. Zugegeben, er war noch weit entfernt - sie schätzte, es könnte leicht noch einmal zehn Etagen sein - doch er war da und so folgte sie der Treppe ins Dunkel.

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