Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Spätsommer
Rúnknǫttr, Titanengrab
Iora hasste die letzten Tage in Rúnknǫttr. Sie hatte zu viel Zeit und zu wenig, um sie zu füllen. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, sich in Magie zu üben. Und sie musste zugeben, dass sie auch Fortschritte machte. Sie wollte sich nicht auf eine Schule beschränken und wechselte, wann immer sie zu frustriert mit einer war, zu einer anderen. Wurde es ihr zu blöd, Münzen oder Blätter Papier aus immer größerer Entfernung zu bewegen, versuchte sie, Kerzen zu zu entzünden. Gelang einer ihrer unzähligen Versuche, war der nächste Schritt, sie wieder zu löschen. Wurde ihr das zu langweilig oder es misslang ihr zu oft, versuchte sie, eine Feder am Fallen zu hindern. Wassermagie hatte Thorgest bisher ausgespart und an Erdmagie traute sie sich nur selten, da diese ihre Geduld weiter strapazierte, als die anderen. Sie konnte konzeptionell verstehen, etwas zu bewegen, es am Fall zu hindern, es zu entzünden. Was sie nicht verstand, war, wie sie aus einer Schale Mehl einen festen Gegenstand formen sollte.
"Es ist nichts anderes, als alle anderen Verbindungen, die du webst. Nur permanent. Nimm die Übung mit den Ästen - oder Grashalmen - und wende sie hier an. Vergegenwärtige dir, dass das Mehl hier nichts ist, als eine Unmenge an kleinen Körnern. Auch sie können verbunden werden. Die Schwierigkeit liegt lediglich in der Anzahl und der Permanenz", hatte ihr Thorgest erklärt. Sie verstand, was er von ihr wollte, doch in der Praxis war es lange nicht so einfach, wie es klang. Und dann saß sie da mit einer Schüssel Mehl und tat nach außen ersichtlich wenig anderes, als sie anzustarren und gelegentlich zu beschimpfen.
In einem wirklich verzweifelten Moment hatte sie all ihre Übungen pausiert und sich sogar wieder dem Studium der Anatomie zugewandt. Nicht einmal unter Folter hätte sie vor Thorgest jemals zugegeben, dass sie aus eigenem Antrieb noch einmal Eine ausführliche Einführung in die moderne Medizin von Aman sa Ura aufgeschlagen hatte. Vorher würden die Sterne vom Himmel fallen. Vorher würde sich der Boden auftun und die Wesen der Unterwelt heraus marschieren und nach dem Weg in den Himmel fragen. Eher würden die Toten zu neuem Leben erwachen. Eher würde...
Die Tür wurde geöffnet. Das Buch geschlossen.
"Du hast es aus dem Bett geschafft! Fantastisch!", kam es von der Tür. Ohne sich umzudrehen, entgegnete Iora: "Und wenn ich noch einen Tag hier in diesem Zimmer bleiben muss, werde ich wahnsinnig." - "Dann können wir ja nur hoffen, dass unser Medicus dich für reisetüchtig erklärt."
Iora drehte sich um und sprang von ihrem Hocker. Und bereute es, als sich der Schnitt in ihrem Bauch meldete. Sie verzog ihr Gesicht.
"Alles gut?", fragte Giræsea besorgt, doch Iora hätte es unter keinen Umständen zugegeben. "Alles gut. Erzähl mir lieber was."
"Hasst du mich immer noch?"
"Mit jeder Geschichte ein kleines bisschen weniger." Iora setzte sich auf die Bettkante. Giræsea legte ein Bündel neben sie und zog sich dann den Stuhl heran. "Kann ich dir nicht einfach versprechen, dass ich mit dir übe, wenn du wieder gesund bist? Schwert? Unbewaffnet? - Warte! Oder! Was..." - Iora schwante übles - "Was, wenn du mir heute etwas erzählst." Giræsea klatschte einmal. "So machen wir es. Heute bist du mal dran." Und als Iora zögerte: "Ach komm. Du musst doch auch etwas zu erzählen haben. Zumindest, bis Thorgest für heute fertig ist."
"Hast du ihn einfach zurückgelassen?"
"Nein, nein. Er erledigt noch etwas in der Stadt. Aber lenk nicht ab."
Iora gab sich geschlagen. "Scheiße. Na gut. Was willst du wissen?"
"Du erzählst ja nichts. Was hast du gemacht, bevor du zu Thorgest gekommen bist?"
"Da gibt es nicht so viel. Ich hab die meiste Zeit der letzten Jahre in der Lehre bei einem alten Magier verbracht. Scheiße. Vermutlich kann ich es jetzt ja auch sagen. Bei einem Blutmagier."
"Den Scheiß hat nicht Thorgest dir eingeredet? Du bist wirklich eine echte Magierin?"
"Nein. Nein nein. Ich kann nur das, was Thorgest mir beigebracht hat. Alles davor war sehr... theoretisch. Viel Geschichte. Geographie. Die alten Götter."
"Vielleicht wollte er dich schützen. Du weißt, dass Magie gefährlich ist."
"Nicht, wenn man damit umgehen kann", erwiderte Iora stur.
"Und die Inquisition..."
"Giræsea, ich bin eine Elfe. Ich kann mich hier nicht einmal frei auf der Straße zeigen. Meinst du, es macht für irgendjemanden einen Unterschied, ob ich Magierin bin? Für die meisten bin ich eines der tollwütigen Ungeheuer, dass die Mauern von Cyndon durchbrochen hat und unzählige Leben auf dem Gewissen hat." Sie atmete schwer. "Vergiss es. Egal... Das war damals in einer kleinen Hütte. Stell sie dir vor. Vollgestopft bis unters dach mit Büchern, Schritftrollen, Stoffbeuteln und Fläschchen. Verschiedensten Gegenständen aus Metall, Holz, Glas oder Kristall. Ich wusste von der Hälfte nicht, wofür er sie gebraucht hat. Vielleicht waren es nur ausgefallene Briefbeschwerer. Geister, ich vermisse den Geruch der Kräuter, die aus irgendwelchen Gründen in jedem Zimmer hingen."
"Wenn es dir damit etwas besser gehen würde, kann ich dir etwas vom Markt mitbringen. Würde dir ein Bündel Petersilie helfen, dich hier wohler zu fühlen?"
Iora streckte ihr die Zunge raus und Giræsea lachte.
"Ich war gern da. Die Jahre auf der Straße... Damals hatte ich nichts. In der Hütte war so viel. Es war natürlich nicht alles meins, aber es war mein Zuhause. Ich kannte alles. Du verstehst? Ich habe manchmal einfach irgendetwas aus einem Regal genommen und gefragt, was es sein soll. Natürlich hab ich manchmal keine Antwort bekommen. Magier sind geheimnisvoll. Und den Teil hat er auf jeden Fall ernst genommen.
Ich hatte mein eigenes kleines Reich direkt unter dem Dach. Ein Bett und nicht viel mehr, aber... Es war meins. Wenn ich keine Aufgaben hatte, konnte ich dort oben lesen. Oder einfach nichts tun. Verstehst du? Echtes nichts tun, weil ich nichts tun wollte. Nicht, weil es nichts zu tun gab. Weil ich nichts tun konnte. Einfach, weil ich nicht wollte. Ich konnte im Bett liegen und aus dem Fenster nach draußen schauen. Auf die uralte Eiche und den kleinen Bach. Ich hab mir Geschichten überlegt, was sie vielleicht schon alles gesehen hatten in ihrer Zeit. Das Haus musste schon mindestens hundert Jahre hier stehen, da war ich mir immer sicher. Aber davor. Vielleicht eine große Schlacht, die dort geschlagen wurde. Vielleicht hatten sie einen Witz gehört, an den sie jetzt niemand auf dieser Welt mehr erinnert. Vielleicht einen ersten Kuss. Unzählige erste Küsse. Die Lage war sehr schön. Ich hatte mir auch vorgestellt, jemanden dort zu küssen. Naja, als einzige Elfe in der Nähe einer Kaiserlichen Stadt... Daraus wurde nichts."
Es war nicht zu spät. Sie würde zurückkehren und Fáelán umbringen. Und vielleicht würde sich dann etwas ergeben. Unter der alten Eiche, im Schein der Flammen der Hütte. Vielleicht mit... Sie schob es beiseite.
"Hast du je vor, zurückzukehren? ... Warum bist du überhaupt weg?"
Das Bild war wieder da. "Vielleicht eines Tages? Ich weiß es nicht sicher. Ich bin gegangen, um etwas von der Welt zu sehen. Es war mir einfach nicht mehr genug. Bis ans Ende meiner Tage nur einen alten Zauberer als Gesellschaft? Ich kann mir besseres vorstellen."
"Zu deinem Glück hast du ja jetzt bessere Gesellschaft gefunden." Giræsea lachte und Iora war sich nicht sicher, ob sie wusste, wie sehr sie damit recht hatte. In nachdenklichem Ton fügte sie hinzu: "Allerdings müssen wir dir endlich deinen ersten Kuss organisieren." Iora wäre beinahe an dem Gebäck aus dem Bündel erstickt und wünschte, sie wäre es. Sie lief knallrot und... Und als sie den Ausdruck auf Giræseas Gesicht sah, boxte sie sie in den Arm.
"Tarnath, du hättest dein Gesicht gerade sehen sollen." Die Ork lachte schallend. "Komm, du musst dich nicht schämen..."
"Überhaupt nicht!", protestierte Iora. "Ich habe schon viele..."
"Du? Elfe in einer kaiserlichen Stadt? Nenn mir einen!" Iora gab ihr gerade genug Zeit, es auszusprechen, bevor sie sie noch einmal boxte. "Au! Du weißt, wenn wir erstmal auf der anderen Seite des Kaiserreiches sind... Da drüben ist das alles etwas leichter. Ich glaube, die Menschen da haben nichts gegen Elfen. Und Felin bestimmt auch nicht."
"Anderes Thema!", rief Iora, in der Hoffnung, es mit purer Willenskraft herbeizuführen.
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Weltentod
FantastikDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...