4. Lydia

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Piepende Maschinen standen um das Mädchen herum. Es roch nach Desinfektions- und Reinigungsmittel.

Selinas Blick lag auf den Schläuchen, an die Lydia angeschlossen war.
Ihre weißblonden Haare fielen fließend über die weißen Laken.

Noch immer war ihre Haut Leichenblass und ihre Augen fest geschlossen. Beinahe so, als würde sie friedlich schlafen. Wie ein Engel, der jeden Augenblick seine großen weißen Federflügel ausbreiten und davonfliegen würde.

"Sie liegt im Koma", stellte Alex nüchtern fest, "Die Kugel hat ihr Rückenmark beschädigt. Die Ärzte wissen nicht ob sie noch Laufen kann, wenn sie wieder aufwacht."

"Wenn sie überhaupt wieder aufwacht", sagte Xander ehrlich. Er stand am Fenster des kahlen Zimmers und sah ausdruckslos auf Lydias Körper. Ihr Körper war das Einzige, was noch zu existieren schien.

Der böse Schimmer, der immer auf ihrem Gesicht lag war verschwunden. Da war nichts.
Selina hatte das Gefühl in das leere Gesicht einer Puppe zu starren.

Selina wollte sie so gerne weiterhin hassen. Für alles was sie ihr angetan hatte. Dafür, dass Neal gehen musste. Und für all das, was sie Xander angetan hatte. Doch sie konnte es nicht. Nicht jetzt und nie wieder.

Unterbewusst wanderte ihr Blick zu X, der ihrem noch immer auswich. Er hatte die ganze Zeit kein Wort mit ihr gewechselt.

Sie erinnerte sich an Lydias letzten Worte zu ihm.

"Ich liebe dich"

Das war alles was Xander King je hören wollte. Das war der Grund für all diese Lügenspielchen. Und jetzt war alles vorbei. Jetzt wirkte all dies klein und unbedeutend.

Er griff nach der Hand des komatösen Mädchens und verschränkte seine Finger mit ihren.
Tränen bildeten sich in seinen Augen und bahnten sich ihren Weg über seine Wange zum Kinn.
Dort vielen sie hinab auf die weiße Bettdecke.

"Es tut mir alles so verdammt leid", seine Stimme zitterte, wie Sel es noch nie gehört hatte. Und auch seine Hand, als er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

Selina hatte das Gefühl ihre Brust würde sich zuschnüren, als dem Geschehen folgte. Wie Xanders Hand auf ihrer Wange ruhte, während seine Beine nachgaben und er wimmernd auf die Knie sank. Sein Gesicht in den Bettlaken vergraben.

Seine großen Schultern zuckten bei jedem Schluchzer und er bekam kaum noch Luft. Sein Körper wirkte mit einem mal so ausgelaugt.

Und Selina fühlte sich mit einem mal so Fehl am Platz. Als wäre all dies nicht für ihre Augen bestimmt. Und noch schlimmer, als wäre all dies ihre Schuld. Als hätte sie in dieser Nacht die Pistole gehalten und den Abzug gedrückt.

Alex war hinter ihren Bruder getreten und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Doch dieser schien die überhaupt nicht mehr zu bemerken.

Die weißen Wände schienen immer näher zu kommen und Sel hatte das Gefühl zerquetscht zu werden.
Alles um sie herum fühlte sich mit einem mal so beengend an. Als würde man ihr die Luft aus den Lunge pressen wollen. Der leere Raum der Intensivstation. Die King Geschwister, die verloren da standen. Mark, der verloren aus dem Fenster starrte. Das leblose Mädchen in dem Krankenbett.

"Ich muss kurz an die frische Luft!" Ohne auf eine Antwort zu warten stürzte sie aus dem Krankenzimmer.

.

Die mechanische Tür öffnete sich vor Selina und sofort schlug ihr die kalte Winterluft entgegen. Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus, doch genau das hatte sie jetzt gebraucht. Ihre Wangen prickelten vor kälte, doch es war ihr egal.

Sie ließ sich auf eine der weißen Bänke fallen und atmete tief durch. Es war ein befreiendes Gefühl, als ihre Lungen sich mit Luft füllten. Ihr Herzschlag beruhigte sich langsam und sie konnte spüren, wie sich ihr ganzer Körper entspannte.

"Selina? Was machst du denn hier draußen?" Es war die warme Stimme von Marla King, die gerade mit zwei dampfenden Pappbechern auf sie zukam.

Ihr weißer Arztkittel flatterte im Wind und ließ sie sehr professionell aussehen. Selina wusste zwar das Marla Notärztin war, doch hatte sie sie noch nie an ihrer Arbeit getroffen.

Zumal die Mutter der King Geschwister meist die Nachtschichten übernahm. Umso überraschter war Sel, als sich die hübsche Junge Frau neben sie setzte und ihr einen der Becher reichte.

Sel zögerte: "Der war doch ziemlich sicher nicht für mich, oder?"

"Da hast du recht", lachte Marla, "Aber du siehst so aus, als würdest du ihn brauchen. Meine Kollegin wird mir verzeihen. Du brauchst den Kaffee eindeutig dringender."

Das stimmte wohl. Mit einem dankbarem Lächeln nahm sie Marla den Becher ab und spürte sofort die Wärme zwischen ihren Fingern.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie kalt es eigentlich war. Ihre Jacke lag noch in dem SUV der Kings. Im Krankenhaus war es warm genug gewesen.

"Also", setzte Marla an, "Was genau verschlägt dich in die Eiseskälte? Ich hoffe doch nicht mein Sohn? Seine Laune ist fürchterlich."

Selina schüttelte sofort den Kopf: "Oh nein! ich habe nur den Anblick von Lydia nicht ausgehalten. Es ist einfach furchtbar sie so zu sehen. Und das obwohl ich sie nicht einmal mochte. Ich habe gehofft dass es mir hilft sie zu sehen. Doch das hat sich leider als Falsch herausgestellt."

"Man hat das Gefühl, die Wände würden einen erdrücken oder?" Mitfühlend legte Marla ihr die freie Hand auf die Schulter. "Ich kenne das. Man kann noch so lange in diesem Beruf arbeiten, Sel, an den Tot gewöhnt man sich nie. Xander und du, ihr hättet das nie sehen sollen."

Ein trauriges Funkeln lag in Marlas Augen, als sie auf den zugeschneiten Park des Krankenhauses blickte. "Eltern wollen ihre Kinder immer beschützen, weißt du. Leider können wir das nicht immer. Mason hat Lydia nicht beschützen können. Und wir euch auch nicht."

"Ich verstehe nicht", verwirrt sah Sel zu der braunhaarigen Frau, "Es ist war unsere Entscheidung."

"Genau und ihr habt das gemacht, was jeder getan hätte. Doch für uns Eltern war dies das Schlimmste. Ich hatte furchtbare Angst dort einzutreffen und zu sehen, wie sie dich oder meinen Sohn in einen Leichensack aus der Villa tragen."

Selina erinnerte sich wieder an ihren Vater. An seinen Blick und seine angespannte Haltung. Er hatte Angst gehabt seine Tochter zu verlieren. Scott Tompson hatte sich einfach Sorgen gemacht. Und mit einem mal tat ihr furchtbar leid, was sie getan hatte.

"Du solltest rein gehen, bevor du dir noch eine Blasenentzündung holst, mein Kind!", Marl erhob sich von der Bank und lächelte sie aufrichtig an.

Selina nickte und nahm einen Schluck der dampfenden Flüssigkeit. Sofort breitete sich eine angenehme Wärme in ihr aus und schien ihr etwas Gewicht von den Schultern zu nehmen.

Miss King wandte sich zum Eingang der Notaufnahme, drehte sich jedoch noch einmal zu Selina um: "Und eines solltest du nicht vergessen: Lydia war zwar Xanders erste Liebe, doch du warst die erste wahre Liebe." Dann verschwand sie mit wehenden Kittel.

Selina wollte ihr noch hinterher rufen, wie sie das meine, doch da war sie bereits zwischen einigen Krankenwagen verschwunden.

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