12. gefallener Engel

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"Erde an King", Alexa King wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, "Hast du mir überhaupt zugehört?"

Die jüngste der King Geschwister saß auf der Anrichte in der Küche und sah ihren Bruder fragend an.
In ihren braunen Augen schimmerte ein Funken der Sorge.

"Natürlich höre ich dir zu.
Ich weiß nur auch nicht warum Sel zu Hilton musste. Ich habe keine Ahnung was sie getan hat, damit sie zu ihm zitiert wurde."

"Aber ist das nicht eigenartig?", versuchte Alex ihr Gespräch zu halten, "Wir reden immerhin von Selina Tompson. Die Selina, die keiner Fliege etwas antun könnte."

Xander lachte auf. Selina war viel, aber sicher nicht die kleine Unschuldige, die sie immer zeigte. Er erinnerte sich an ihren Einbruch ins Büro des Direktors um Neal den Arsch zu retten.

Sie hatte es riskiert von der Schule zu fliegen um jemanden zu helfen, der sie vor wenigen Monaten noch behandelt hatte als sei sie Dreck. Wieso also sollte sie nicht wieder gegen eine Regel verstoßen haben.

Er wollte gerade den Mund öffnen um etwas zu erwidern, als ihn das Klingeln seines Handys unterbrach. Eine unbekannte Nummer blinkte auf und verdeckte sein Hintergrundbild. Auch Alex warf einen fragenden Blick auf seinen Display.

Ihr Bruder zuckte nur mit den Schultern, bevor er den Anruf annahm und dein Handy an sein Ohr hielt: "King hier. Wer will was?"

"Hallo Xander King?", krächzte eine alte Stimme, "Ich bin Molly Baker, eine Schwester von der Intensiv. Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr an mich, aber ich habe früher oft auf deine Schwester und dich aufgepasst."

"Tut mir leid, aber ich erinnere mich wirklich nicht."

Ein herzliches Lachen: "Das dachte ich mir schon Xander, da warst du noch so klein. Ich hab die Nummer von deiner Mama bekommen. Ich weiß das ich mich hier echt auf dünnem Eis bewege, aber ich muss das machen."

Verwirrt Zog Xander die Braue hoch: "Um was genau geht es denn?" "Es geht um Lydia Conner"

Mehr musste die ältere Dame nicht sagen. Einzig der Name reichte um das Blut in Xanders Adern zu erhitzen. Wie Wellen bei Flut schwappten die Wellen durch seinen Körper. Den jungen Footballspieler wurde gleichzeitig heiß und kalt.

"Ist- ist sie Tod?"

"Was? Oh nein nein! Ich wollte die nur mitteilen das sie aufgewacht ist. Ich dachte du würdest sie gerne besuchen. Die Besucherzeit hat noch nicht begonnen und ich könnte sich auf Station bringen. " Die Stimme von Molly Baker klang wie durch Watte gesprochen, doch er verstand jedes Wort genau.

"Ich bin in fünf Minuten da!"

.

Schritte hallten über den Linoleumboden, als Xander durch die langen Flure rannte.

Nie hatte er das Krankenhaus so ausgestorben erlebt.
Selbst in der kleinen Mensa hatte niemand gesessen und einen Kaffee getrunken oder ein Stück Kuchen von Lucy's.

Keine Besucher, keine kreischenden Kinder in der Eingangshalle und keine Ärzte in weißen Kitteln.

Xander war niemandem begegnet, als er die Tür zur Intensivstation öffnete.
Der altbekannte Geruch von Desinfektionsmittel schlug ihm entgegen und seine Augen begannen zu tränen.

"Xander?", eine kleine, mollige Frau kam ihm entgegen. Auf ihren vollen roten Lippen zeichnete sich ein warmes Lächeln ab. Sofort wusste Xander das es sich hier um Molly Baker handeln musste. Sie hatte diese liebevolle, freundliche Art die Xander bereits bei ihrem kurzen Telefonat bemerkt hatte.

"Sie ist gerade wach. Geh einfach zu ihr", sprach die ältere Dame weiter, während sie sich eine blondgraue Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

"Danke", brachte Xander hervor, "Und danke das sie mich angerufen haben. Ich kann mich gar nicht genug bei ihnen bedanken."

Und das meinte der Starspieler der West River High auch so. Nachdem Constanze Conner ihn von der Intensivstation verwiesen.

"Natürlich mein Kind. Das war doch das Mindeste, nachdem du und deine Freundin der Kleinen das Leben gerettet habt."

"Das war doch selbstverständlich." Außerdem hatte Sel ihr Leben gerettet. Xander hatte nur da gestanden, wie versteinert und zugesehen.

.

Leise öffnete er die Tür und betrat den weißen Raum, der sich dahinter verbarg.
Frische Luft mischte sich mit dem sterilem Geruch des Krankenhauses. Jemand musste das Fenster geöffnet haben, denn der Duft von Tannen hing in der Luft.

"Ich hätte nicht damit gerechnet dich zu sehen" Ein schwache Stimme drang an sein Ohr und erregte seine Aufmerksamkeit.

Lydia Conner lagt da, nach wie vor an duzende Maschinen angeschlossen. Ihre Haut so kreidebleich wie die Wände, die sie umgaben. Einzig die hellgelben Bettbezüge brachten etwas Kontrast in die triste Lage.

Sofort wurden Xanders Beine weich. Sein Herz schlug unnormal schnell, als würde es in stolpern geraten.

Lydia Conner so zu sehen war anders. Das starke unabhängige Mädchen welches sie immer gewesen war, war verschwunden.

Zurückgeblieben war nur eine leere Hülle, die sie hinter einem halbherzigen Lächeln zu verstecken versuchte.

"Willst du da Wurzeln schlagen? Du siehst ja beinahe beschissener aus als ich", lachte Lydia schwach, "Komm doch her. Ich würde dir ja entgegen kommen, aber ich spüre meine Beine nicht."

Wie von selbst trugen seine Beine ihn ans Bett seiner ehemaligen Freundin. "Du hast mir so eine Angst eingejagt", murmelte Xander, als er sich auf den freien Stuhl neben ihrem Bett fallen ließ. Aus Gewohnheit griff er nach ihrer Hand, die über der Bettdecke lag.

Erst dachte er Lydia würde sie zurückziehen, doch das tat sie nicht. Noch immer zierte ein schwaches Lächeln ihre wohlgeformten Lippen.

"Wenn ich gewusst hätte das ich nur fast sterben muss, damit du zu mir kommst, dann hätte ich mir eher was einfallen lassen."

Auch wenn Lydia versuchte ihren Schmerz zu überspielen, so kannte Xander sie doch besser: "Lüg dich nicht selbst an Lyd. Wie geht es dir?"

Tränen bildeten sich ihren blaugrauen Augen als sie Xander zum ersten mal richtig in die Augen sah: "Er ist tot X. Mein Dad... er-er ist für immer weg!" Schluchzer erschütterten ihren dürren Körper.

"Ich weiß", flüsterte Xander, während er über ihren Handrücken strich, "Ich weiß Lyd."

"I-ich bin allein! Ich habe alles verloren." Ihre Worte waren nur noch ein verzweifelter Schrei, "Ich bin ganz allein!"

Schmerz funkelte in ihren Augen, als Xander sich auf die Bettkante setzte. Ohne ein Wort legte er seine Hand an ihre Wange und strich ihre Tränen weg.

Zu gerne hätte er sie in seine Arme gezogen und nicht wieder losgelassen, doch er wollte ihr nicht wehtun.

"Nein Lyd. Du hast viel verloren, aber nicht alles. Mich wirst du nie verlieren." Xanders Stimme war fest und überzeugend.

Er hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel und strich ihr ihre weißblonden Haare hinters Ohr.

Nach all dem sah sie noch immer aus wie ein Engel.
Einem, dem man die Flügel gebrochen hat.

"Mich wirst du nie verlieren."

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