6. Positive Überraschung

293 21 1
                                    

Müde schaltete Sel ihren Wecker aus und drehte sich auf die andere Seite. Ihr fehlte die Luft und der Antrieb sich um neun Uhr schon aus dem Bett zu pellen.

Ihre Rollos waren unten und hielten das Zimmer finster. Nie waren die Rollos unten. Normalerweise hatte das Mädchen nur die dünnen weißen Vorhänge zugezogen, damit das schwache Mondlicht ihr Zimmer erhellen konnte.

Seit Xander sie, vor sechs Tagen, nach Hause gefahren war, sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein. Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet.

Xander würde sich ja sowieso nicht melden und Maya und Mark würden zu ihr kommen, wenn etwas wichtiges wäre. Zum Beispiel, wenn sich etwas an Lydias Zustand geändert hätte.

Lydia.
Sel konnte nicht einmal die Augen schließen, ohne ihren reglosen Körper dort liegen zu sehen. In der Pfütze aus rotem Blut. Und der starre Körper ihres Vaters. Das Loch auf seiner Stirn, direkt zwischen seinen Augen.

Morgen sollte Mason Conner beerdigt werden. Und die ganze Stadt würde da sein. Selina hatte schon versucht ihre Mutter davon zu überzeugen sie zuhause zu lassen, doch sie traf auf taube Ohren.

Roana Tompson war der Meinung, dass es ihrer Tochter helfen würde, das Ganze zu verarbeiten.

Doch sie wollte nichts verarbeiten. All ihre Gedanken kreisten um Lydia. Das Mädchen war nun vollkommen allein. Ihre Mutter war, das hatte Xander ihr erzählt, nie für sie da und ihren Vater konnte sie nicht einmal beerdigen.

Dieses Mädchen hatte in einer Nacht alles verloren, was ihren Leben einen Sinn gegeben hatte. Und wenn sie aufwachte, dann war sie vollkommen alleine.

Ein zartes Klopfen an ihrer Zimmertür ließ sie aufhorchen. Der Strudel ihrer Gedanken ebbte kurz ab und erlaubte ihr tief Luft zu holen. Soweit das in ihrem Zimmer noch möglich war.

Die Luft schmeckte abgestanden und stickig, dass selbst ihre Duftkerzen nicht mehr dagegen ankamen. Doch sie dachte nicht einmal daran ein Fenster zu öffnen.

Sie wollte die weiße, friedvolle Winterlandschaft nicht sehen. Nicht wenn sie wusste, dass der Schein trügerisch war.

Die Laune der Menschen war nicht mehr so fröhlich und ausgelassen, wie noch zu beginn der Festtage. Kinder gingen nicht mehr raus zum Schlitten fahren oder Schlittschuh laufen, auf dem Dark Lake.

Es war, als habe eine ganze Stadt den Atem angehalten. Als verstecke sie sich, vor dem Übel dieser Welt. Und als würde alles besser werden, wenn niemand mehr sein Haus verließe.

Selina störte all dies nicht. Die kleine Rothaarige hatte sowieso nicht vor irgendwo hinzugehen. Denn es war egal wo sie hinsah, es spielte sich immer wieder die Silvesternacht vor ihren Augen ab.

Erneut klopfte es an ihrer Zimmertür. Dieses Mal lauter.
Bestimmter.
Egal wer es war, er wollte nicht gehen, bevor sie ihn nicht hereingebeten hatte.

"Herein", grummelte sie leise und wickelte sich ihre warme Wolldecke um. Es war ihr ziemlich egal, dass sie aussah wie eine wandelnde Untote. Das ihre roten Haare unsauber zusammengebunden waren und das ihre schlanke Gestalt in einem der alten T-Shirts ihres Dads steckte.

Auch das ihr Gesicht eingefallen war und die dunklen Augenringe. Denn egal wer vor der Tür stand, er hatte sie schon einmal so gesehen. Mark und Maya kannten sie gut genug und ihre Eltern sowieso.

Die Tür wurde mit Schwung aufgerissen und das Licht vom Flur flutete ihr Zimmer. Zischend kniff Sel die Augen zusammen. Die ungewohnte Helligkeit brannte in ihren Augen, sodass sie sich abwenden musste.

Egal wer gerade in ihr Zimmer gepoltert war, er blieb nicht im Raum stehen sondern steuerte direkt auf die Fenster zu und zog die Rollos hoch. Und erneut strömte das helle Tageslicht hinein. Zusammen mit kalter frischer Luft, als die Fenster aufgerissen wurden.

Langsam traute sie sich die Augen zu öffnen. Doch was sie dann sah konnte nichts anderes als ein Fiebertraum sein. Ein Streich der ihr von ihrem Unterbewusstsein gespielt wurde.

"Ich muss träumen..."

Das musste sie einfach, denn die Wahrheit war zu absurd. Es war einfach nicht möglich.

Neal Rodriguez stand am Fenster und grinste sie an. Dieses typisch, spöttische Grinsen, was sie nur noch über den Bildschirm kannte. Eben weil er am anderen Ende der Welt war. Oder zumindest sein sollte.

Doch er stand, lässig wie eh und je, in ihrem Zimmer und sah auf das kleine Knäul aus Decken hinab.

"Das höre ich in letzter Zeit öfter", Neal schmunzelte, als er sich neben ihr auf dem Bett niederließ, "Ich weiß ja das ich Traumhaft bin, aber ihr übertreibt es langsam. Sonst wächst mein Ego noch mehr."

Sel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: "Mich wundert es, dass du mit dem noch durch die Tür passt." Dann fiel sie dem Jungen um den Hals. Sofort erwiderte dieser ihre Umarmung und zog sie an sich.

"Du hast mir so gefehlt, Kleine", nuschelte er in ihr Haar, ohne sich von ihr zu lösen. Seine große Hand strich über ihren Rücken und sie spürte sich, trotz der Kälte von draußen, so geborgen wie schon lange nicht mehr.

Seufzend vergrub sie ihr Gesicht in seinem Hoddie und nahm seinen Geruch in sich auf. Erst jetzt wurde ihr Bewusst, dass sie genau das gebraucht hatte.

Sie wollte nicht ihre Eltern hier haben, oder Mark und Maya. Und auch nicht Xander. Sie brauchte ihn. Ihren besten Freund. Ihren Bruder.

"Und du hast mir gefehlt!", sagte Sel. Tränen liefen über ihre Wangen und benetzten ihre Haut, "Du hast mir so unfassbar gefehlt. Ich brauche dich."

Neal ließ seine Hand auf ihren Rücken ruhen und sah sie aufrichtig an: "Und ich brauche dich. Ich weiß garnicht wie ich es die letzten Monate ohne dich ausgehalten habe." Er hatte ihr eine Hand unters Kinn gelegt und zwang sie aufzusehen. "Du bist meine kleine Schwester und ich liebe dich."

Sanft wischte er ihr, mit dem Daumen, die Tränen von der Wange. Seine markanten Gesichtszüge waren weich und ein sanftes Lächeln schmückte seine Lippen. "Und jetzt zieh dir etwas an. Wir sind in einer halben Stunde mit den anderen zum Eislaufen verabredet."

Sie wollte gerade protestieren, da hatte Neal sie schon auf die Beine gezogen: "Und ich will keine Ausreden hören. Das steht fest!" Er wartete erst garnicht auf eine Antwort, sondern riss einfach die Türen ihres Kleiderschranks auf und fing an in ihren Kleidern zu wühlen. "Wo hast du denn bitte deine Unterwäsche?"

Jetzt war Sel mit einem Mal hellwach. Mit zwei großen Schritten war sie bei ihrem Kleiderschrank angekommen und hatte die beiden Türen zugeschlagen. "Du bist für mich auch wie ein Bruder, aber meine Unterwäsche ist tabu!" Sie wollte ernst sein, doch auf ihren Lippen hatte sich ein leichtes Lächeln abgezeichnet.

"Du gehst vor die Tür und ich zieh mich um, okay?", fragend sah sie zu dem Jungen auf.

"Na gut, aber beeil dich. Sonst werd ich dich in Unterwäsche mitnehmen und dann kannst du protestieren so viel du willst", mit diesen Worten verließ Neal ihr Zimmer.

Save the GameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt