Kapitel 19

203 11 8
                                    

"Das war mein Stiefbruder", entgegnete ich ihm knapp und kurz. Wie sich das anhörte. Stiefburder. Doch er bedeutete mir zu viel um nur ein Stiefbruder zu sein. Es war zu viel Knistern, zu viele Schmetterlinge, zu viel Vertrauen und zu viel Liebe zwischen uns, um nur als Stiefgeschwister zu gelten. Doch das würde ich nie zugeben. Nie vor Gianni. "Willst du auch was von ihm?", riss mich Gianni aus meinen Gedanken und wie aus der Pistole geschossen log ich, dass da nichts weiter zwischen uns war. Nichts weiter als die Liebe wie sie nunmal zwischen Stiefgeschwister vorhanden ist. Er zuckte mit den Schultern und ich bildete es mir nicht ein. Ich konnte genau sein erleichtertes Ausatmen hören. Empfand er vielleicht doch mehr für mich?  "Luisa, du hast mir beim Abendessen keine Antwort gegeben. Also ob wir die Woche, morgen oder so mal in die Stadt gehen wollen. Kaffetrinken, Eisessen oder solchen Scheis machen?", baute er ein neues Gesprächsthema auf. Auf diese Frage wusste ich beim Essen schon keine vernünftige Antwort. Sollte ich es riskieren? Was wenn er mich wieder sitzten lässt. Wieder mit solch einer Schokoladenaktion kommt und mich vor allen blosstellt? Wenn er ganz nah kommt, kurz davor ist mich zu küssen und dann erst recht wieder abhaut? Nur um zu zeigen, wie naiv ich war? Ich musste ablehnen. Jeder normal denkende Mensch würde absagen. Doch anscheindend machten meine Gehirnzellen heute blau und ich antwortete ihm. Aber ich gab ihm keine Absage. Nein. "Gerne. Hast du Mittwoch Nachmittag Zeit?", brachte mein Mund selbstständig herraus. Ich merkte wie er von Innen nach Außen zu strahlen begann. Anscheinend lag ihm doch etwas an mir. Bei der Wegzweigung am Ende der Straße machten wir kehrt. Der Weg zurück schien viel kürzer, als der Hinweg. Vielleixht weil ich mich wohler fühlte. Mehr zu reden wusste und Gianni meine halb eingefrohrene Hand in seiner hielt. Vielleicht nur um sie zu wärmen. Vielleicht steckte ja nicht mehr dahinter. Aber vielleicht bedeutete es ihm auch etwas. Auch wenn es schon April war, kühlte es in der Nacht ziehmlich ab. Nichts mit nächtelangen Gespräche am Balkon führen. Da würde ich halb erfrieren. Gianni begleitete mich bis zu meiner Zimmertüre. Ich wollte schon die Türe öffnen und verschwinden, aber er hielt mich zurück. Er wollte etwas sagen, doch Ellis Stimme im Hintergrund war mindestens doppelt so laut.

"War die kleine Heulsuse sich wieder bei ihrem Beschützer ausheulen? Gianni, dass du dich mit der noch blicken lässt hätte ich mir nicht gedacht. Sieh sie dir doch mal an. Dieses Klapperknochengerüst. Bei der gibts doch nichts zu holen." Die Worte trafen mich tief. Es tat irgendwie weh, jemanden so über dich zu reden hören. Ein Stich im Herzen und ein kleiner Verlust an Selbstvertrauen waren die Auswirkungen ihrer Sprüche. Jedes mal ein bisschen härter. Was wollte sie damit bezwecken? Da nahm ich Giannis Stimme wahr: "Elli, bitte lass Luisa doch einfach in Ruhe. Kümmer dich um deine eigenen Sachen und hör auf Luisa fertig zu machen. Glaubst du wirklich die Aktion mit den Flugzettel verschafft dir mehr Respekt von den anderen? Bitte lass es einfach." Nach diesen Worten zog er mich weg. Weg in mein Zimmer und verschloss die Türe hinter sich. Hannah war nicht hier. Aber wo war sie? "Hannah ist mit Chris im Kino.", flüsterte mir Gianni leise ins Ohr, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen. "Lass dich von Elli nicht fertigmachen. Die muss sich bloß selbst etwas beweisen.", sprach er etwas lauter weiter und lies sich auf meinem Bett fallen. Ich tat im gleich und lies mich nur kanpp neben ihn nieder. Mit einem Blick auf meinen Wecker, der im Prinzip bloß als Dekoration auf meinem Nachtkästchen stand, bemerkte ich, dass es schon kurz vor 23 Uhr war. "Dir ist klar, dass wen du um 23Uhr noch hier bist wir beide Ärger bekommen?, fragte ich ihn drängend nach. Ich war nicht heiß darauf den Abwaschdienst nochmal zu übernehmen. Er nickte grinsend. "Keine Sorge Luisa, ich hau gleich ab.", redete er cool vor sich hin während er sich langsam in Richtung Türe bewegte. Doch wie sollte ich mich bei ihm verabschieden? Eine Umarmung? Küsschen links Küsschen rechts? Oder einfach nur ein 'Bis dann'? Ich tippelte ihm hinterher bis zur Türe, wo er sich nochmal umdreht. Ich konnte seinen Atem auf meiner Stirn spüren. Er war warm. Wie schön es jetzt wohl wäre einfach neben ihm einzuschlafen. Nicht im Sex zu haben. Einfach um nicht einsam zu sein. Damit ich mich nicht alleine fühlen musste. Doch das ging natürlich nicht. Er hob mit seiner Hand mein Kinn an. Ich konnte seine fesselnden Augen betrachten. Sie hatten etwas Trauriges in sich. Immer wieder fiel sein Blick auf meine Lippen. Ich wusste was er vorhatte, und es machte mir Angst. Die kurzen Häarchen an meinem Unterarm stellten sich auf. Einige wenige Schmetterlinge in meinem Bauch fingen an zu tanzen. Ich wusste, dass es besser wäre Gianni jetzt nicht zu küssen. Doch er verzauberte mich. Er schaffte es immer wieder das kleine naive Mädchen aus mir rauszulocken. Doch mit einem Wimpernzucker verwischte sein Bild vor meinen Augen und ich sah Valentin. Valentins stechend grüne Augen, mitdenen er mich liebevoll musterte. Doch es verschwand wieder und ich stand der Realität gegenüber. Ich verdrängte meine tanzenden Schmetterlinge und drehte mich ruckartig um. Die Versuchung wäre zu groß gewesen, wenn ich länger so hauteng an Gianni gestanden wäre. Ein verwunderter Blick traf mich. War es jetzt ich, die Gianni so kurz vor einem Kuss stehen lies? War ich jetzt die, die ihn Hoffnungen machte? Sein Blick vereiserte sich. Er sagte kein Wort. Aber ich habe doch nichts falsch gemacht? Und er erkannte meine Unsicherheit ihm gegenüber. Er trat wieder einen Schritt auf mich zu, psckte mich an der Taillie und wisperte mir ins Ohr. "Schlaf gut Luisa. Und vergiss unser erstes Date nicht" Glücklich erwiderte ich seinen vorfreudigen Blick, bevor er sich aus dem Staub machte.

Den ganzen Dienstag konnte ich an nichts anderes mehr denken. Seit dem Aufstehen musste ich an den letzten Abend denken. Dann wurde mir auch mein morgiges 'erstes Date' mit Gianni bewusst und mir wurde, diesmal vor Aufregung, etwas übel. Sollte ich mich darauf wirklich freuen? Mit Malis plante ich was ich sagen sollte, was ich fragen sollte und was reden, wenn eine peinliche Stille entstehen sollte. Und was ich tragen würde. Ich wollte meine schwarze lowwaisted Jeans mit einer weißen Bluse und Jenasjacke mit Nieten in Show setzten. Die verdrängten Schmetterlinge in meiner Bauchhöhle krochen langsam wieder hervor. Mit jedem Gedanken an Gianni vergas ich Valentin etwas mehr. Ich vergas ihm eine Nachricht zu senden oder ihn anzurufen. Giannis eisböaue Augen überdecken Valenins Grüne.

Mitten in der Nacht wurde ich wach. Ich schmeckte etwas Magensäure meinem Mund und musste leicht aufstoßen. Vorerst. Es war halb 2, verriet mir der Wecker. Nur einen Bruchteil von Sekunden später stürtzte ich aus dem Bett ins Badezimmer. Ich spürte wie mein mitternächtlicher Snack, der aus dem übergebliebenen Abendessen bestand, wie in Zeitlupe meine Speiseröhre nach oben kroch. Gerade noch rechtzeitig schmiss ich meinen Kopf über die Kloschüssel. Der Kartoffelsalat, das Stück Schnitzel und das restliche Gemüse wurde von meinem Körper rausgekotzt. Erleichtert fühlte ich mich nicht. Ich war erschrocken. Schokiert blieb ich neben dem WC auf den kalten Fliesen sitzten. Ich hatte richtig schlechtes Gewissen, als ich vor lauter Hunger nicht den Apfel, sondern das in Fett fritierte Schnitzel aß. Es zeronn förmlich auf meiner Zunge. Es war Ewigkeiten her, als ich mein letztes Schnitzel zu mir genommen hatte. Doch schon nach den ersten Bissen überfiel mich ein schlechtes Gewissen. 'Du bist dick. Willst du noch dicker werden?', sprach eine Stimme in meinem Kopf zu mir. 'Das ist pures Fett. Fühlst du dich nicht schlecht? Du kannst dir das nicht leisten du fettes Ding!', schrie mich die Stimme in meinem Kopf an. Doch ich aß weiter. Nein ich fraß. Ich stopfte die nicht gegessenen Reste in mich hinein, als hätte ich seit Wochen nichts mehr zu Essen bekommen. Irgendwie hatte ich das ja auch. Doch die Stimme quälte mich weiter. Ich nannte die Stimme Ana. So wie sie im Internet auch beschrieben wird. Ana war die Abkürzung von Anorexia. Ana war meine Freundin. Doch sie verbot mit Süßes oder Fettes zu essen. Sie zwang mich mich täglich abzuwiegen und mein Gewicht in mein kleines Büchlein, wo ich auch meine Nahrung notiere, einzuschreiben. Sie erinnerte mich daran, meinen Hunger durch viel Wasser trinken zu unterdrücken und hielt mir mein Ziel klar vor Augen. Auch jetzt hörte ich diese Stimme in mir wieder. Die Stimme in meinem Unterbewusst sein. Der säuerliche Geruch meines Erbrochenen stieg mir langsam in die Nase und bevor ich wusste, was passierte, kam noch mehr von meiner nächtlichen Fressatacke hoch. Ich musste würgen, da nach und nach nichts mehr in meinem Magen enthalten war. Doch es kam nichts mehr hoch. Der Schweis tropfte mir von der Stirn und plötzlich griff mir eine Hand auf die Schulter. Sie strich mir vorsichtig meine Haare zurück und band sie mir zu einem hohen Rossschwanz aus meinem schweisgebadetet Gesicht. Anas Stimme ertönte in mir. Sie lobte mich. Sie war stolz auf mich, meinen Körper von den Kalorien befreit zu haben. Doch ich hatte Angst. Angst vor der Wahrheit. Eine Träne kugelte mir die Wange runter. Ich schmeckte den salzigen Geschmack meiner Tränen, kombiniert mit dem würgenden Geschmack von Magensäure. Ein neuer Brechreiz kam in mir hoch. Doch es gab nichts mehr zum Enlehren. "Gehts wieder? Wollen wir einen Kübel neben dein Bett stellen?", fragte mich Hannah fürsorglich. Ich nickte bloß. Langsam erhob ich mich und fing an mein Gesicht, vorallem meinem Mund, von meinen Mageninhalt zu befreien. Die ekelhafte Pampe klebte rund um meinen Mund. Als ich meine Hände wusch, spürte ich wie dünn mein Handgelenk bereits geworden war. Ich konnte den harten Knochen spüren. Oder war das nur Einbildung? Im Spiegel musste ich mich mustern. War ich wiklich so dünn wie Malis mich beschrieben hatte? So dünn wie mich alle beschrieben? Habe ich wirklich schon so viel abgenommen? Und da kam mir Valentin wieder in den Kopf. Valentin mt den wunderschönen grünen Augen und dem perfekten Lächeln.

Danke für die 2k reads und die vielen Votes. Habe mich sehr gefreut. Bitte bitte immer brav weiter voten und kommentieren. Bald kommt auch das nächste Kapitel. Ich hoffe Diese findet bei euch gefallen. ♡

Wild-OneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt