58. Kapitel

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Wir laufen durch den Außenbereich des Gartencenters, als Harry das Thema anspricht, dass wir seit gestern umgehen. Natürlich ist mir bereits in den Sinn gekommen, darauf zurückzukommen, so wie es ursprünglich vereinbart war, aber jedes Mal, wenn meine Gedanken dorthin geschweift sind, hatte ich augenblicklich bedenken, die entspannte, angenehme Stimmung zwischen uns zu zerstören. „Möchtest du zuerst über Noah sprechen, oder über den Artikel?", fragt er schließlich und schiebt den großen Einkaufswagen vor sich hin. Ich sehe auf den Baumarktwaren vor mir und umschließe dessen Griff etwas fester. 

„Ich wusste nicht, wie ich es ansprechen soll.", antworte ich ruhig. „Nichts davon." – „Mhm. Habe ich mir gedacht.", erwidert er und bliebt stehen um sich ein paar Pflanzen anzusehen. Keine Ahnung, welche Art es ist, Grünzeug halt. Er stellt den Topf wieder weg und geht weiter. Einige Pflanzen hat er bereits eingepackt, ich glaube es sind Wildblumen. Harry hat einen Zettel in der Hand. Heute Morgen beim Frühstück hat er eine Skizze des Gartens angefertigt und verschiedene Ideen niedergeschrieben.

„Ich wollte nie, dass du dich hintergangen fühlst.", sagt er schließlich und betrachtet den Zettel in einer Hand. „Irgendwie musst ich an Tickets kommen und ich bin meine Kontakte durchgegangen. Ich hatte die Hoffnung, dass Noah eventuell jemanden kennt, der dort arbeitet. Glaub mir, ich hätte lieber jemand anderes angerufen. Erst bei unserem Telefonat habe ich erfahren, dass er selbst dort arbeitet.", erzählt Harry mir. „Noah mag dich nach wie vor. Soweit ich weiß, wolltet ihr doch sowieso versuchen, wieder Freunde zu werden.", merkt er an und blickt zu mir. Ich schweige. Harry seufzt und geht ein Regal weiter. Die Stimmung ist genauso angespannt und unangenehm, wie ich befürchtet hatte. Am liebsten würde ich das Thema auf der Stelle abbrechen, aber mir ist bewusst, dass es die Situation nur schlimmer machen würde. Augen zu und durch. Etwas anderes wird nicht helfen.

„Du hast es mir nicht gesagt.", stelle ich erneut fest. „Mhm. Habe ich nicht.", nickt er und nimmt sich einige Pflanzen, um sie zu den anderen zu stellen. „Noah wollte den Grund wissen. Verständlicherweise. Ich habe es ihm erzählt, anders wäre ich nicht an die Tickets gekommen. Ohne ihn hätte es wahrscheinlich nicht geklappt. Als er mir die Zusage wenig später per Mail geschickt hat, war ich gerade dabei alles andere zu organisieren: Das Hotel, die Stylistin, dein Outfit, Lotties Outfit, deine Fahrt nach London.", zählt er auf. „Meine Praktikantin hat sich um die Social Media Postings gekümmert, aber natürlich musste ich auch diese kontrollieren und hier und da ausbessern. Es war sehr viel zu tun.", erklärt er mir und unsere Blicke treffen sich. Ein Schauer erfasst meinen Körper und mein Herz hüpft. Das tut es jedes einzelne Mal, wenn Harry mich ansieht, wenn er mir direkt in die Augen schaut und dadurch tief in meine Seele blickt. Keine Mauer, kein Schutz. Er sieht mich, erkennt mich. Sofort.

„Ich hätte es dir schreiben können, da hast du recht, aber ich wollte, dass du den Abend genießt. Ich war mir nicht sicher, ob das gegangen wäre, wenn du wüsstest, dass Noah dort wäre. Und ich hatte die kleine Hoffnung, dass ihr euch überhaupt nicht begegnen würdet.", gibt er zu. Ich schnaube und verdrehe die Augen. „Dass wir uns nicht begegnen würden? Und du glaubst wirklich, dass war eine realistische Möglichkeit, nachdem ich mit seinem Ehemann an einen Tisch gesetzt wurde?", möchte ich von ihm wissen und zwinge mich dabei, leise zu sprechen. Ich bin nicht scharf darauf, dass andere Personen hier mitbekommen, dass wir diskutieren. Wir streiten nicht. Wir diskutieren nur.

Harry sieht mich perplex an. Er blinzelt ein paar Mal, bis er etwas sagt. „Sein... sein Mann saß bei dir am Tisch?" – „Rick. Ja. Er ist Schauspieler und er wusste die ganze Zeit über, wer ich bin. Und ich saß dort wie ein vollkommener Idiot, weil ich ihn nicht erkannt habe.", entgegne ich. „Du... er weiß es?" – „Mhm. Ja. Offene Ehe, du weißt doch." Mein Freund nickt stumm und sieht nachdenklich zur Seite. „Du hattest wirklich keine Ahnung.", merke ich schnell. „Nein... Noah hat mir nichts gesagt. Ich wusste nicht einmal, dass sein Mann dort sein würde.", murmelt er und schüttelt leicht den Kopf. „Ich... natürlich hätte ich dir Bescheid gegeben, wenn ich das gewusst hätte, Louis.", sagt er schließlich. Ich seufze. „Okay." – „Okay?" – „Ja, okay. Irgendwie... ich denke, ich kann es inzwischen verstehen.", lenke ich ein und lächle versöhnlich. Als ich sehe, dass er es erwidert, erfüllt mich das Gefühl der Erleichterung.

„Ich würde dich jetzt gerne küssen.", sage ich unüberlegt und Harry unterdrückt ein Grinsen. „Ich dich auch, du Idiot." Ich sehe mich um. Wir sehen zwischen vielen hohen Regalen, es ist noch früh am Tag und das Gartencenter recht leer. Niemand ist in Sichtweite. Also verliere ich keine Zeit. Mit beiden Hände greife ich die Knopfleisten seiner Jacke, ziehe ihn bestimmend zu mir heran und küsse ihn. „Mhm.", keucht Harry leise überrascht. Ich lecke über seine Lippe und er öffnet seinen Mund. Einen kurzen Moment lang schmecke ich seine Zunge, spüre seinen Mund und vergesse die Welt um uns herum. Ich blende alles aus, nur Harry nimmt meine Sinne ein. Mein Körper fokussiert sich auf ihn und erneut stelle ich fest, wie sehr ich diesem Mann verfallen bin. Wie sehr ich ihn liebe.

„Was...", fragt Harry verblüfft, fast schon sprachlos. „Ich wollte einen Kuss, also habe ich mir einen Kuss geholt." – „Habe... habe ich mitbekommen." – „Schlimm?", frage ich amüsiert. „Nein... uhm... wir sind nicht Zuhause.", stellt er fest und mir wird warm ums Herz. „Du hast Zuhause gesagt.", bemerke ich glücklich. „Uhm... ja.", lächelt er nun auch und seine Wangen werden etwas dunkler. „Sag es nochmal." – „Was, Zuhause?" – „Es klingt wundervoll." Er beißt sich auf die Unterlippe, sieht auf seinen Zettel mit der Gartenskizze und nickt. „Tut es. Ja." Ein Mitarbeiter läuft an uns vorbei und räumt wenige Meter neben uns einige Pflanzen in die Regale. Verdammt, muss er das jetzt tun? Ich möchte meinen Freund noch einmal küssen!

„Wenn wir schon dabei sind... der Artikel.", fällt mir stattdessen ein. „Darum kümmere ich mich bereits.", meint Harry. „Ich habe ihn gelesen und die Reaktionen auf Social Media angesehen. Es gibt durchaus Personen, die diese Theorie für realistisch halten, aber noch mehr Menschen, die den Artikel kritisiert haben. Die Meinungen gehen auseinander, aber viele verstehen nicht, wieso du schwul sein solltest, nur weil du LGBTQ unterstützt. In den Augen der Fans bist du durch die Gala offiziell zu einem Alley geworden."

„Ein Alley?", frage ich ihn irritiert. „Jemand der hetero ist, aber sich für Gleichberechtigung bezüglich LGBTQ einsetzt.", erklärt er mir knapp. „Das ist sehr gut. Es passt perfekt zur Kampagne und ist unglaublich gute PR für Lightning. Ich denke, es ist das beste, gar nicht auf diesen Artikel zu reagieren." – „Was?" Mit großen Augen sehe ich ihn an. „Du willst gar nichts machen?!" – „Es sind nur Spekulationen und die Mehrheit glaubt es sowieso nicht. Getroffene Hunde beißen, Louis, deswegen denke ich, wir sollten die Füße stillhalten. Und der sogenannte Insider ist übrigens ein altes Jahrbuchfoto der Eishockeymannschaft. Man kann es über Google finden. " Ich denke darüber nach und erwidere: „Du bist der Fachmann. Ich vertraue dir." – „Ich würde niemals etwas machen, das dir oder deiner Karriere schaden würde." – „Das weiß ich, Love, ich vertraue dir."

Damit ist auch dieses Thema abgeschlossen. Ich kann nicht sagen, dass ich mir gar keine Gedanken um den Artikel mache, aber es stimmt, ich vertraue Harry in diesem Punkt voll und ganz. Ich vertraue Harry in allem was er sagt, voll und ganz, ganz egal, worum es geht. Kurzerhand nehme ich ihm den Zettel aus der Hand. „Was soll das sein?", frage ich und blicke auf eine Notiz. „Ein Hochbeet.", erwidert er. „Brauchen wir aus dieser Abteilung noch etwas?", frage ich ihn und sehe in den inzwischen sehr vollen Einkaufswagen. Er schüttelt den Kopf. „Nein, das wars, denke ich." – „Dann komm, holen wir dieses Hochbeet.", beschließe ich und laufe vor. „Das ist für die Kräuter oder?" – „Wenn alles klappt, ja.", nickt Harry. Er hat mir heute Morgen zwar erzählt, welche Kräuter es genau sein sollen, aber das weiß ich schon nicht mehr.

Nachdem ich feststellen musste, dass ich in die völlig falsche Richtung gelaufen bin, kommen wir schließlich doch am richtigen Bereich des Gartencenters an. Harry stöbert durch die Auswahl. Immer, wenn er sich etwas ausgesucht hat, gibt er mir Bescheid und ich lege es auf den Baumarktwagen.

„Oh wow..." – „Das ist ein Baum." – „Das ist ein Olivenbaum. Bestimmt schon 70 Jahre alt, oder mehr.", antwortet Harry mir und sieht auf das Schild „103", korrigiert er, sieht einen Moment auf den Baum und geht dann weiter. „Warst du nicht gerade noch total begeistert?" wundere ich mich. „Ähm... ja, aber wir haben doch schon so viel.", redet er sich heraus. Ich verdrehe innerlich die Augen und schnappe mir den Zettel, der am Baum befestigt ist. Durchmesser 1,3 Meter Höhe 2,3 Meter Preis: 899$

In dem Moment, als Harry den Baum gesehen hat, haben seine Augen geleuchtet, das könnte er nie bestreiten und nun ist mir klar, weswegen er so schnell weiter gelaufen ist. Er schaut gerade ein paar Meter weiter nach Sonnenblumenkernen (glaube ich zumindest) und bemerkt nicht, dass ich noch hier stehe. Schnell winke ich einen Mitarbeiter zu mir. „Was kann ich für sie tun?", fragt er freundlich.

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Was hat Louis wohl vor? Oh und ich habe recherchiert, ein Olivenbaum dieser Größe müsste tatsächlich in etwa so viel kosten.

Love, L 

Lightning Strikes TwiceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt