Angekettet

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Mir lief es kalt den Rücken hinunter und ich schauderte. Ich war froh, dass Cole so nah hinter mir stand und ich seine Wärme spüren konnte. Das gab mir wenigstens ein bisschen Sicherheit. Die Fackeln und Kerzen warfen gruselige Schatten an die Wände und im flackernden Licht meinte ich, an den Wänden Blutspuren erkennen zu können.

„Komm“, sagte Julian und ging zu den Ketten, hob sie hoch, als wären sie aus Pastik und überprüfte, ob sie stabil genug waren. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was hatten sie mit mir vor? Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich meinte, keine Luft mehr zu bekommen.

„Was ist das?“, fragte ich und meine Stimme klang beinahe hysterisch. Ich wäre bestimmt in Panik ausgebrochen, wenn Cole nicht seine Hand auf meinen Rücken gelegt hätte. Durch seinen leichten Druck konnte ich die Wärme und das Zirkulieren des Blutes in seinen Fingern spüren und auf irgendeine Art und Weise beruhigte mich das. Mein Herzschlag, der vorher bestimmt viermal so schnell gewesen war, passte sich dem ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus seines Herzens an. Als ich aufsah, merkte ich, dass Jace uns die ganze Zeit beobachtet hatte.

„Das“, erklärte Julian, „sind Ketten, die kein Vampir zerreißen kann. Sie sind einen Meter in die Wand eingemauert. Das heißt, es kann sie auch kein Vampir aus der Mauer reißen. Und falls die Ketten doch einmal ihren Geist aufgegeben sollten, ist da ja noch die Eisentür. Eisen verursacht bei Vampiren Verbrennungen auf der Haut. Linda, könntest du bitte die Tür verriegeln?“ Linda folgte dem wie ein Wunsch geäußerten Befehl ohne Widerrede. Ob sie schon gelernt hatte, was passierte, wenn man sich Julian widersetzte? „Dieser Raum“, fuhr er fort, während er sich die Handschuhe auszog, „ist also ein Hochsicherheitsgefängnis für Vampire, die ich nicht leiden kann oder die sich nicht kontrollieren können. Unter diese Rubrik fällst du.“ Er deutete auf mich. „Und jetzt komm endlich her. Ich hab auch Hunger.“

Zögerlich trat ich einen Schritt in seine Richtung. Das hatte ihm offenbar gereicht, denn er streckte blitzschnell seine Hand nach mir aus, packte mich am Handgelenk und zog mich zu den Ketten. Ehe ich mich versah, begann Julian auch schon, meine Hände in die Ringe zu stecken. Als er die Ketten wieder losließ und diese durch das Gesetz der Schwerkraft nach unten gezogen wurden, dachte ich beinahe, sie würden meine Hände abreißen.

„Müssen die denn so schwer sein?“, stöhnte ich, während er auch meine Fußgelenke einschloss.

„Wenn du in den Blutrausch fällst, werden unvorhersehbare Kräfte wach, die du dir jetzt noch nicht vorstellen kannst. Bei meiner Schwester wirst du auch lernen, diese zu kontrollieren, also auch außerhalb des Rausches anzuwenden, wie ich eben. Cole, ich erlaube es dir, zuzuschauen, aber nur unter der Bedingung, dass du nicht eingreifst, egal, was passiert. Und du darfst Mira nicht dafür verurteilen, was sie tut, sie kann nichts dafür, klar?“ Er stand auf und drehte sich zu Cole um. Dieser nickte. Das Ziehen an meinen Armen wurde immer unerträglicher.

„Gut, dann fangen wir an“, sagte Julian und winkte Linda und Jace zu sich. War Linda auch ein Vampir? „Viele Vampire müssen sich ihre Nahrung jeden Tag neu suchen. Ich, beziehungsweise wir, haben das Glück, dass Linda ihr Blut freiwillig anbietet und sie immer da ist, wenn man sie braucht“, erklärte er und strich ihr beinahe zärtlich die Locken nach hinten über die Schulter. Zum Vorschein kam ein großes Pflaster. So eines, wie es auch Cole unter seinem Schal versteckt hatte. Mir wurde klar, dass Linda kein Vampir und wahrscheinlich auch kein Gestaltenwandler war, sondern ein Mensch, der nur hier in der Schule lebte, damit Julian etwas zu essen hatte. Ich ekelte mich davor, ebenfalls meine Zähne in den Hals dieser Frau zu senken, wie Julian es gerade tat. Er sog und sog, die Hände um ihre Schultern gekrallt. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, auch wenn auf meiner Armbanduhr nur zwei Minuten verstrichen. Er hob den Kopf wieder und ich konnte sehen, wie seine Augenfarbe von rot zu grün wechselte. Ich bewunderte seine Selbstkontrolle. Dann wurde ich von den Blutrinnsalen abgelenkt, die aus den Löchern, die Julians Eckzähne hinterlassen hatten, Lindas Hals bis zu ihrem Shirt herunterliefen und schließlich in den Stoff ihres grünen Oberteils sickerten. Rote, dicke Schnüre, die ihm Fackellicht glänzten. Ich wollte es nicht sehen, schloss die Augen, drehte meinen Kopf zur Seite und versuchte, mich auf den kühlen Stein zu konzentrieren, an dem meine Wange lag. Oder auf den Schmerz in meinen Händen und Füßen. Aber nun wurde mir wegen des Geruchs schwindelig. Deshalb machte ich die Augen wieder auf. Meine Nase konnte ich leider nicht verschließen. Deshalb versuchte ich, die Luft anzuhalten, doch es war zu spät. Ich hatte bereits den bleiernen Geruch von Blut wahrgenommen und der Hunger war erwacht. Trotzdem kämpfte ich dagegen an und bekam nur halb mit, dass Julian etwas von einem Lerneffekt redete, weshalb ich als letzte zu essen bekommen sollte, und Linda dann an seinen Sohn weiterreichte. Dieser leckte die Rinnsale auf, um auch ja keinen Tropfen zu verschenken, und setzte seine Zähne genau da an, wo Julian vorher getrunken hatte. Jace brachte genauso viel Beherrschung auf wie sein Vater, obwohl es ihn sichtlich mehr Mühe kostete, aufzuhören, denn als er sich wieder aufrichtete, glänzten Schweißperlen auf seiner Stirn.

In meinem Bauch tobte es, meine Kehle brannte wie Feuer und die Kopfschmerzen verursachten eine Piepsen in meinem Ohr.

Linda war schon blasser geworden, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, und sie hatte die Augen halb geschlossen. Julian nahm sie und führte sie zu mir. Ich hielt angewidert meinen Kopf weg.

„Ach, du bist so brav“, spottete Julian und griff in die Tasche seines schwarzen Mantels. Er zog einen Trinkschlauch hervor, der an einem Ende in eine Spritze überging.

„Auch Vampire müssen essen, sonst werden sie schwach und kriegen solche Schmerzen, dass sie sich wünschten, sie wären tot. Doch auch zum Selbstmord wären sie zu schwach. Aber deswegen müssen sie keine Menschen töten. Linda dient mir zum Beispiel schon seit zwei Jahren als Nahrungsquelle. Und keine Sorge, ich werde nicht zulassen, dass du sie aussaugst“, erklärte er, während er das Spritzenende des Schlauches in ihren Arm schob. Dann nahm er den Schlauch selbst in den Mund, zog so lange, bis er fast gänzlich gefüllt war und steckte ihn anschließend zwischen meine Lippen. Das Blut lief wie von selbst in meinen Mund und ich konnte nichts gegen das Schlucken tun. Ich schloss die Augen. Mein Kopf hörte auf, zu schmerzen, meine Hals brannte nicht mehr und mein Magen beruhigte sich langsam.

Ich muss aufhören, dachte ich. Ich will das gar nicht. Das ist widerlich und es ekelt mich an. Aber ein Schluck mehr oder weniger, machte den Kohl schließlich nicht fett. Und danach dachte ich: nur noch ein paar Schlucke... nur noch einen... einen kleinen noch...

Mein Schlauch war leer. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass Julian die Spritze aus Lindas Arm gezogen hatte. Aber ich wollte mehr. Ich wollte alles Blut, das ich kriegen konnte. Mein Blickfeld hatte sich längst rot gefärbt und die Ketten, die ich um Fuß-und Handgelenke hatte, waren auf einmal leicht wie Nähgarn. Doch leider waren sie nicht so leicht zu zerreißen. So sehr ich auch daran riss und zerrte, ich kam nicht zu dem Blutstropfen, der sich auf ihrem Arm bildete.

„Okay, ich glaube, wir sollten Linda hier raus schaffen, sonst beruhigt Mira sich nie“, sagte Jace gelassen.

„Aber nein. Sie soll doch lernen, den Schmerz und den Hunger zu ertragen“, widersprach Julian, doch Cole ging dazwischen.

„Muss man sie denn unnötig quälen? Reicht es denn nicht, dass sie sich selbst hasst und verachtet, wegen dem, was sie tun muss, um zu überleben? Zu was sie gezwungen ist, durch das, was sie ist?“, rief er erbost und kam zu mir, legte seine Hände an mein Gesicht, schaute mir tief in die Augen. Ich beruhigte mich. Auch wenn seine Augen und sein Gesicht und überhaupt alles rot war, gaben sie mir Sicherheit und Halt. Und plötzlich hörte ich seine Gedanken, seine Stimme in meinem Kopf.
Ihre Augen, rot so schön wie grün. Sie ist kein Monster, auch wenn Jace das behauptet. Denn er hat ihr nie in die Augen gesehen. Nie die Gefühle gesehen, die sie ausstrahlen. Nicht diesen Schimmer gesehen, der bleibt, egal ob Mensch, Panther oder Vampir. Die Dringlichkeit, der stumme Hilfeschrei, die Angst. Sie hat Angst. Angst jemanden zu verletzten oder gar zu töten. Das denkt doch kein kaltblütiger Mörder, kein Monster. Ich will ihr helfen.

Danke, dachte ich und ich war mir sicher, dass er es gehört hatte. Und seine Augen waren nicht mehr vom Blutdurst rot gefärbt, sondern in dem Blau, das ich kannte. An das ich tagein, tagaus dachte. Von dem ich nachts träumte. Diese Augen waren das letzte, was ich sah, bevor alles schwarz wurde.

Tränen von BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt