Wo noch?

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Bildquelle: http://www.testedich.de/quiz30/quiz/1335199941/Welches-Pferd-passt-zu-dir-Incredebilis-Test

Wo sollte ich nur suchen? Zuerst lief ich in die Kantine. Dort konnte ich Cole aber nirgends entdecken. Ich entschied, mich bis zu seinem Zimmer durchzufragen. Bei jedem Jungen, der mir auf dem Weg begegnete, erkundigte ich mich. Die meisten bedachten mich mit einem merkwürdigen Blick, halfen mir jedoch alle weiter und so dauerte es nicht lange, bis ich Coles Zimmer gefunden hatte. Es kannte ihn ja jeder.

Ich klopfte an. Stille. Von drinnen konnte ich nichts hören. Leise öffnete ich die Tür einen Spalt breit und schaute in den Raum, der dahinter lag. Gegenüber befand sich ein hölzerner Schrank, der gleiche, den auch ich und den jeder in diesem Internat besaß. Das Fenster zeigte nach außen, also zum Wald, und davor stand der Schreibtisch, der mit allerlei Schulkram übersät war, aber das war bei mir nicht anders. Das Bett stand in der linken Ecke neben der Tür. Weder im Bett oder vor dem Schrank, noch am Schreibtisch war er. Kein Cole im Bett, kein Cole am Schreibtisch. Im ganzen Raum kein Cole. Erschöpft sank ich gegen den Türrahmen. Ich hatte keine einzige Idee, wo ich noch nach ihm suchen sollte. Was, wenn er weggelaufen war? Womöglich noch, um sich aus lauter Trauer was anzutun. Grundlos.

Ich schloss die Augen. Wo würde ich hingehen, wenn ich voller Trauer wäre und niemand bei mir wäre? Ich würde etwas suchen, das sich keine Meinung über mich bildet. Das mich nicht verachtet, das mich nicht bemitleidet und mich trotzdem trösten kann. Wie Tiere. Bei uns gab es nur einen Ort, an dem es Tiere gab. Genauer gesagt: Pferde.

Ich drehte mich auf den Absatz um, schloss die Tür und ging den Gang zurück. Immer schneller, bis ich irgendwann fast rannte. Die Schüler blickten mir noch befreundeter nach, als auf dem Hinweg, aber das störte mich nicht. Ich hatte ein Ziel, einen Plan, eine Mission.

Zwischendurch stieß ich mit Schülern zusammen, die auf ihre Zimmer wollten und mir empört hinterherriefen. Auch das war mir egal. Ich rannte, bis ich vor den Stalltüren stand. Ich öffnete sie. Völlige Dunkelheit umfing mich. Ich war zum Glück schon oft genug hier gewesen, um zu wissen, wo was stand. Wenn jetzt nur nicht irgendjemand eine Mistgabel oder einen Eimer im Gang hatte stehen lassen.

Vorsichtig bahnte ich mir den Weg durch den Mittelgang zwischen den Boxen und durch die Dunkelheit, bis ich auf der anderen Seite des Stalls ankam. Natürlich waren die Pferde alle draußen auf der Weide, die direkt an das riesige Schulgebäude und den Stall, der sich darin befand, angrenzte. Ich öffnete den einen Flügel der doppelflügeligen Holztür. Einige Sekunden lang konnte ich nur blinzeln, so sehr blendete mich das Tageslicht. Als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, ließ ich meinen Blick über die Weide schweifen. Sie war riesig, aber es mussten ja auch ziemlich viele Tiere darauf Platz finden. Es gab drei Hütten, die auf der gesamten Wiese verteilt waren, damit sich die Pferde unterstellen konnten. Die Pferdetränken befanden sich in der Nähe des Stalls, sodass man, um das Wasser nachzufüllen, nicht weit laufen musste.

Ich ließ meinen Blick noch einmal über die Weide gleiten. Diesmal entdeckte ich ihn. Er stand ziemlich weit weg bei seinem Pferd. Genaueres konnte ich nicht erkennen. Ich schnappte mir ein braunes Pferd, das in meiner Nähe stand und schwang mich auf seinen Rücken. Es war glücklicherweise nicht sehr groß. Dann ritt ich zu ihm.

Einige Meter vor ihm hielt ich an und stieg ab, um den Rest zu Fuß zu gehen. Cole hatte seinen Kopf in die Mähne seines Schimmels vergraben und mich noch nicht bemerkt. Ich wollte ihn nicht erschrecken, aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Seine linke Hand war um den Hals seines Pferdes gelegt. Ich nahm sie. Cole sah auf. Er sah sehr unglücklich aus. Ich nahm ihn in die Arme. Wir standen nicht lange so dort, denn je länger wir dort gestanden hätten, desto länger wäre Cole unglücklich gewesen, und das konnte und wollte ich nicht ertragen, zumal ich es verhindern konnte.

„Komm, ich will dir was zeigen“, sagte ich und zog an seiner Hand. Er ließ sich willenlos mitführen. Ich bedeutete ihm, auf das braune Pferd zu steigen, mit dem ich hergeritten war. Als er oben war, schwang ich mich hinter ihn. Ich legte meine Arme um ihn und meinen Kopf auf seine Schulter. Dann gab ich dem Pferd die Sporen. Der Wind Ruhr uns durch die Haare und die Sonne schien warm auf uns nieder. Ich konnte die Schönheit des Augenblicks erkennen, Cole nicht. Er hielt es wahrscheinlich als Verhökerung, aber ich hatte Angst, dass er mir nicht glaubte, wenn ich ihm erzählte, dass Jace lebte. Er war eindeutig tot gewesen.

Als wir wieder am Stall angekommen und abgestiegen waren, nahm ich seine Hand und führte ihn durch den Stall. Er hatte bisher kein Wort gesagt. Ich wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass er nicht mehr weinte. Auf jeden Fall beruhigte es mich, dass er meine Hand drückte. Ich führte ihn über den Schulhof und den Weg, den ich mittlerweile kannte, entlang zu Julians Büro. Dort angekommen stieß ich die Tür auf und zog Cole hindurch.

„Warum tust du mir das nochmal an?“, fragte er mit matter Stimme.

Ich drehte mich zu ihm um, nahm sein Gesicht in beide Hände, küsste ihn und sagte: „Cole, ich liebe dich. Niemals würde ich dich noch einmal zwingen, Jace tot sehen zu müssen. Aber ich bitte dich: Vertrau mir.“

Er verzog das Gesicht, als er erneut zur Tür schaute, hinter der das Wohnzimmer lag und hinter der Jace war, aber er nickte. Allerdings wäre er nicht mitgekommen, wenn ich ihn nicht erneut an der Hand genommen und mitgezogen hätte. Er hatte eindeutig nicht mehr viel Willenskraft. Ich öffnete die Tür und schob ihn vor. Leider konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber seine Reaktion war eindeutig verblüfft. Er blieb augenblicklich wie vom Donner gerührt stehen, als er Jace auf dem Sofa liegen sah.

„Das hat aber lange gedauert. Mir war schon langweilig“, meinte dieser und grinste.

-Hallo Leseratten,
Es ist wieder ein Kapitel fertig. K&V sind immer erwünscht. Viel Spaß beim Lesen!

Euer readerbunny01-

Tränen von BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt