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Wir saßen alle auf dem Sofa und starrten vor uns hin. Keiner sagte ein Wort. Wir waren in vollem Bewusstsein, dass Lorelay Marlene noch immer verhörte, folterte. Ich knetete meine Hände. Lorelay wusste, dass Jace lebte, doch sie hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig. Ich hatte wirklich Angst, dass sie so sehr in ihre Rache gesunken war, dass sie nichts mehr fühlen konnte, als dieses nagende Gefühl, und dass sie alles andere dafür in den Hintergrund stellen würde. Ich knetete meine Hände. Hier hörte man die Schreie nicht, doch ich war mir nicht sicher, ob das besser war. Wir hatten keine Ahnung, was Lorelay mit ihrem Opfer anstellte. Wir wussten nicht mal, ob Marlene noch lebte. Die Zeiger der Uhr, die an der Wand hing, tickten übernatürlich laut. Ich knetete meine Hände.
Ich stand auf und ging an den CD-Regalen entlang. Mit dem Finger fuhr ich über die Regalbretter und hinterließ Linien im Staub, wie Lorelay auf Marlenes Haut. Wer die CDs wohl noch höhren würde? Oder die Bücher lesen? Ich fragte mich, ob Julian all diese über die Jahre angesammelt hatte. Mir traten Tränen in die Augen. Ich wischte sie mir aus den Augen und setzte mich wieder auf das Sofa. Und knetete weiter meine verdammten Finger. Es war bestimmt kein Blut mehr darin. Wann konnte Lorelay endlich mal kommen und verkünden, dass sie wüsste, wer der eigentliche Übeltäter war. Ich wusste es nicht. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich nicht so tatenlos rumsitzen und nichts tun konnte. Ich sprang wieder auf und verließ ohne ein Wort das Zimmer.
Ich war wahrscheinlich noch nie so zielstrebig auf etwas zugegangen und schon gar nicht auf ein Zimmer, in dem gerade jemand gefoltert wurde. Die Schreie waren bereits zu hören, als ich den Geheimgang betrat und sie wurden immer lauter. Ich öffnete die Tür, so laut, dass Lorelay mich gar nicht überhören konnte. Sie dreht sich überrascht zu mir um.
„Wo ist ihr Handy?“, fragte ich. Mir entging dabei nicht, dass sich für einige Sekunden ein erschrockener Ausdruck in Marlenes Augen schlich. Sie hatte sich zwar gleich darauf wieder unter Kontrolle, aber ich hatte es bemerkt, was mich nur noch mehr bestärkte. Es waren noch einige kleine Schnittwunden dazugekommen. Nun war fast kein Platz mehr auf der Haut, der nicht von Wunde oder Blut bedeckt war.
„Es liegt auf dem Schreibtisch in der Bibliothek, wieso?“, fragte Lorelay verwundert. Sie konnte vielleicht so tun, als wäre sie ausschließlich von Rache erfüllt, aber ich war mir sicher, dass sie nicht mehr ganz so grausam war, seit sie wusste, dass Jace gar nicht tot war. Und trotzdem: Marlene hatte Jace töten wollen und es hätte ihr auch eigentlich gelingen müssen. Und die hatte Julian umgebracht und er war Lorelays Bruder gewesen.
Ich drehte mich um und verließ das Zimmer wieder. Die Tür fiel laut hinter mir ins Schloss. Vielleicht lag es daran, dass ich unbedingt so schnell wie möglich zu diesem Handy kommen wollte. Jedenfalls war ich in Sekundenschnelle dort. Ich schob es auf meine Vampirfähigkeiten. Mir wurde etwas schwindelig, als ich wieder stand, was mich allerdings nicht davon abhielt, nach dem Handy zu greifen. Ich schaute in den letzten Anrufen nach und lächelte böse. Sie war unvorsichtig gewesen. Sonst hätte sie den Verlauf der Nummern gelöscht.
Ich steckte das Telefon ein und machte mich auf den Weg. Ich hatte ein Ziel und eine Emotion, die mich vorantrieb, weshalb die Verwandlung ganz einfach ging.
Und ich rannte. Auf dem Weg nagte das schlechte Gewissen an mir. Nein, es war nicht das schlechte Gewissen und genau das verursachte mir ein schlechtes Gewissen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, dass ich den anderen nichts von meinem Plan erzählt hatte, besonders Lorelay. Vielleicht hätte sie mit der Folter aufgehört, wenn sie wusste, dass es eine andere Möglichkeit gab, herauszufinden, wer der Übeltäter war. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, dass ich damit vielleicht Marlenes Todesurteil unterschrieben hatte, denn dass diese nicht mehr lange zu leben hatte, konnte jeder sehen. Das schlimmste war jedoch, dass ich genau wusste, warum es mich nicht kümmerte. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich Marlene genauso tot sehen wollte, wie Lorelay, ich war nicht besser als sie. Im Gegenteil, ich war sogar schlimmer. Lorelay spielte vor, böse zu sein. Das nagende Gefühl, ich kannte es so gut. Nein, im Gegenteil, ich war sogar schlimmer. Lorelay spielte vor, böse zu sein, war es aber im Herzen nicht. Ich hingegen spielte, vor, nicht böse zu sein, war es jedoch von innen und außen. Eben, als ich so unruhig war, wann Lorelay endlich kommt, habe ich nicht meine Finger geknetet, weil ich wissen wollte, wer der Kopf hinter Marlenes Morden war. Der eigentliche Grund war, dass ich wissen wollte, wann sie denn endlich tot war. Und genau das machte mir Angst.
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Tränen von Blut
ParanormalMira geht nicht auf eine normale Schule. Sie ist auf einer Schule für Gestaltenwandler. Das heißt: Jeder in ihrer Klasse kann sich verwandeln, aber in verschiedene Tiere. Kein Tier gibt es doppelt. Bis Jace an die Schule kommt. Er ist ein Panther, g...