Tod

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Bildquelle: http://spruchbilder.com/10079/das-ist-vermissen

Emma wollte nicht mehr zurück in die Schule kommen. Sie sagte natürlich, dass sie, sollten wir Hilfe brauchen, immer zur Stelle sein würde, aber sie würde sich nun wieder zurückziehen. Linda bot an, noch eine Nacht dort zu bleiben, um Emma noch ein bisschen über ihre Trauer hinwegzuhelfen. Wir anderen, also Marlene, Lorelay und ich, fuhren mit dem Auto nach Hause. Marlene parkte in der Garage und den Rest des Weges an der Mauer entlang gingen wir zu Fuß.

„Lorelay?“, fragte ich.

Sie antwortete nicht, aber ich merkte, dass ich ihre Aufmerksamkeit hatte.

„Fährst du jetzt wieder nach Hause?“

„Nein“, antwortete sie mit bitterem Tonfall.

„Wieso nicht? Die Beerdigung ist doch jetzt gelaufen“, drang ich weiter.

„Ihr seid offensichtlich nicht in der Lage, euch selbst zu beschützen“, sie klang schon ein bisschen wütend, was ich aber nicht allzu ernst nahm, weil sie ihre wahren Gefühle nur hinter dieser Wut versteckte. „Hier gibt es eine Gefahr, die noch nicht gebannt ist. Ich will nicht, dass noch jemand stirbt.“ Mein Blick wanderte zu Marlene, die vor uns ging. Sie ließ sich nichts anmerken.

„Noch jemanden, den du liebst?“ Ich wusste, dass die Frage gewagt war, denn ich kannte Lorelay nicht gut genug, um einschätzen zu können, wie sie reagierte.

„Allgemein“, meinte sie, doch ihre Stimme klang nicht mehr ganz so beherrscht, was mir zeigte, dass ich genau ins Schwarze getroffen hatte.

„Wie deine Freundin?“

Lorelay blieb stehen. „Woher weißt du das?“, fauchte sie und drehte sich zu mir um.

„Ich, ähm, Jace hat es mir erzählt“, stammelte ich.

„Jace weiß nichts davon. Also, woher weißt du das?“

„Ich...“, ich wusste, nun blieb mir nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, „ich hab die Bilder gesehen.“

Lorelay drehte sich wieder nach vorne und ging schweigend weiter. Ich dachte schon, jetzt sei das Gespräch beendet, als sie plötzlich zu erzählen anfing: „Sie hieß Veronica. Sie war ein Mensch und meine beste Freundin seit ich klein war. Als ich schließlich zum Vampir wurde, meinten meine Eltern, ich solle mich von ihr fernhalten, weil ich zu gefährlich sei. Veronica und ich hörten nicht auf die Warnungen. Wir trafen uns weiterhin. Wir sind Shoppen gegangen, haben Videoabende gemacht und sind Fahrrad gefahren. Alles haben wir zusammen gemacht. Dann ist sie gefallen und hat sich das Knie aufgeschürft. Mir hatte niemand beigebracht, wie ich mich kontrollieren kann. Ich habe sie getötet. Meine beste und älteste Freundin und ich habe sie getötet.“

Ihre Wangen glänzten, als ich zu ihr sah. Das musste sie sehr mitgenommen haben.

„Das tut mir sehr leid“, sagte ich leise, „ich wollte keine Anspielung darauf machen, dass du hierbleibst, um die Menschen zu töten, die du liebst. Ich, es tut mir leid. Das wusste ich nicht.“

Sie sagte nichts. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie trösten sollte. Also sagte ich nichts weiter und so gingen wir schweigend bis in das Arbeitszimmer des Schulleiters. Einen neuen Schulleiter würden wir auch brauchen. Neue Tränen stahlen sich in meine Augen, aber ich blinzelte sie weg, bevor sie meine Wangen hinunterlaufen konnten.

Cole, Jace und Finn warteten bereits auf uns. Schließlich mussten wir noch Abendessen. Cole setzte sich mit Finn auf das Sofa in Julians Wohnzimmer, während Lorelay, Jace und ich mit Marlene im Büro blieben. Lorelay beugte sich als erste über Marlenes Hals. Hoffentlich reichte Blut. Lorelay war relativ schnell fertig und Jace legte seine Zähne in die Bisswunde, die Lorelay verursacht hatte. Ich sorgte mich eher darum, dass Jace alle guten Vorsätze vergessen und Marlene einfach aussaugen könnte, als darum, dass sie ihm etwas antat. Schließlich standen wir drum herum und sie wollte ja nicht auffallen. Wenn sie ihn verletzte, während wir zusahen, wäre sie aufgeflogen, denn sie wusste nicht, dass wir es längst wussten. Und wir wussten zu dem Zeitpunkt nicht, dass sie wusste, dass wir es wussten.

Sie rammte den Holzpfahl so tief durch seine Brust, dass er auf der anderen Seite wieder heraus kam. Mit einem letzten Röcheln glitt Jace zu Boden. Neben mir schrie Lorelay auf. Ich stand wie gelähmt da und starrte auf den Blutfleck, der sich rasend schnell über sein Shirt ausbreitete. Lorelay kniete sich auf den Boden, nahm seine Hand und wimmerte, während sie vor- und zurückwippte. Durch ihren Aufschrei alarmiert kam Cole ins Zimmer gestürzt.

„Tja“, spottete Marlene und lachte böse, „denkt ihr wirklich, ich hätte euch nicht gesehen im Wald? Und denkt ihr wirklich, ich hätte eure Blicke nicht bemerkt? Oh doch, das habe ich.“

Cole erfasste endlich die Situation, drückte mir Finn in die Arme und griff nach Marlenes Arm. Diesen verdrehte er so auf ihren Rücken, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten und schleifte sie durch den Geheimgang in der Bücherwand in den Raum, in dem ich damals angekettet wurde, damit ich nicht meinem Blutdurst erlag. Lorelay saß immer noch wimmernd auf dem Fußboden, als ich mir des Schmerzes bewusst wurde, der sich in meiner Brust ausbreitete. Finn, den ich weiter fest an meine Brust presste, schrei wie am Spieß, während ich langsam zu Boden glitt. Ich bekam keine Luft. Mein Atem ging flach und mir wurde schwindelig. Der Boden kühlte meine Wange und meine Schläfe.

Lorelay drehte sich um und erschrak, als sie mich am Boden liegend sah. Sie nahm mir Finn aus dem Arm und mir wurde augenblicklich eiskalt, als sie mir meine Wärmflasche nahm, das einzige Leben. Ich krümmte mich zusammen, mein Blick starr auf Jace gerichtet, dessen tote Augen an die Decke blickten. Oder darüber hinaus in den Himmel?

Lorelay schrie verzweifelt nach Cole. Er kam und blieb in der Tür wie angewurzelt stehen.

Dann kam er zu mir und beugte sich tief über mich.

„Mir ist kalt“, flüsterte ich. Er hob mich hoch und drückte mich an sich, aber die Wärme kam nicht zurück.

Tränen von BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt