Bahnfahrt bei Nacht

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Bildquelle: http://www.fotocommunity.de/pc/pc/display/22679027

Ich seufzte und richtete mich auf, nur um festzustellen, dass der Zug doch noch nicht da war. Verwundert schaute ich zu Jace. Er lächelte und fragte: „Kannst du ihn schon hören?"

Ich nickte. Sein Grinsen wurde breiter, aber mehr sagte er nicht dazu. Ich konnte mir allerdings denken, dass das mit dem super Vampirgehör zu tun hatte.

„Wie weit ist er noch entfernt?", fragte ich.

„Von der Lautstärke her würde ich sagen: so etwa zwei Kilometer. Und die Tatsache, dass der nächste Bahnhof 1900 Meter entfernt ist, würde das bestätigen."

Ich sah ihn überrascht an. Er grinste ungerührt weiter. „Siehst du, was für Vorteile es mit sich bringt, ein Vampir zu sein. Wie du diese Fähigkeit und viele andere gezielt nutzen kannst, wird Lorelay dir beibringen", meinte er und stand lächelnd auf.

Wir griffen nach unseren Koffern und und gingen schon mal zum Rand des Bahnsteiges, um den Zug zu erwarten. Nach etwa einer Minute kam er um die Ecke gerattert. Die Nacht wurde auf einmal taghell durch die Scheinwerfer. Mit quietschenden Reifen kam der Zug schließlich zum Stehen. Jace machte einen Schritt auf die Tür zu, die uns am nächsten war und drückte den Knopf. Mit einem dampfenden Geräusch öffnete sie sich und wir hievten unsere Koffer in den Flur. Jace stieß die Tür zu dem nächsten Abteil auf und ging vor. Es waren nur sehr wenige Passagiere da und wir hatten so gut wie freie Platzwahl. Auf einem der blauen Sitze saß eine alte Frau, die sehr grimmig dreinschaute und offenbar ebenfalls verreiste, denn sie hatte eine große Tasche auf dem Platz neben sich stehen. Weiter hinten saß ein junges Pärchen, das wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Party oder Disco in die Stadt waren, denn ihr Aussehen war ziemlich aufgemotzt. Wir suchten einen Vierersitzplatz. Hier würde es sich die geplanten zehn Stunden Fahrzeit aushalten. Jace stellte die Koffer und großen Taschen oben auf die Gepäckablage und setzte sich dann neben mich in Fahrtrichtung.

„Ich hasse es, rückwärts zu fahren", murmelte ich.

„Ich auch", meinte und lächelte wieder. Im Gegensatz zu mir, die ich müde und nicht gerade freudig den fünf Wochen ohne Cole entgehen sah, schien mein Bruder eigentlich ziemlich glücklich und munter. Im Stillen hoffte ich, er würde nicht die ganze Zeit reden. Ich hatte nämlich eigentlich vorgehabt, ein bisschen zu schlafen. Die Füße auf den Sitz gegenüber meinem und tief in die Lehne gekuschelt schaute ich aus dem Fenster. Leider konnte man nur das Spiegelbild des Zuginneren sehen, weil es draußen so dunkel war.

Ich schloss die Augen und dämmerte schließlich ein.

Als ich aufwachte, weil wir wieder anhielten, lag mein Kopf auf Jace' Schulter. Ich schreckte hoch, doch für Jace war es in Ordnung. Also lehnte ich mich wieder an seinen Arm.

Ich wachte noch ein Mal auf, weil der Zug anhielt. Diesmal stieg das junge Paar aus. Relativ bald gingen auch die Lampen aus und das Schlafen war für mich kein Problem mehr.

Als ich wieder aufwachte, lag ich mit meinem Oberkörper auf Jace' Schoß und er auf mir. Ich wagte mich nicht zu rühren, aus Angst, ihn zu wecken, aber die Position war zu ungemütlich, um sie im wachen Zustand lange einzuhalten. Es dämmerte draußen und alles war still. Außer dem Rattern des Zuges war nichts zu hören. Zum Glück hatten wir einen Bahnlinie, die nach Paris durchfuhr, sodass wir nicht umsteigen mussten. Jace wachte relativ schnell nach mir auf und setzte sich auf. Nun konnte ich mich auch wieder aufrichten und strecken.

„Und, hast du gut geschlafen?", fragte ich gähnend.

Er nickte. Ich schaute aus dem Fenster. Im Gegensatz zu unserer Heimat, war hier alles flach. Ich schaute auf die Uhr. Es war halb sechs. Also würde die Fahrt noch etwa hier Stunden dauern. Ich freute mich auf Paris und wollte unbedingt auf den Eiffelturm und in das Wachsfigurenkabinet. Morgens wollte ich Croissants und abends Baguette essen und es mir so richtig gut gehen lassen, durch alle Geschäfte stöbern, auch wenn ich kein Geld hatte, um mir etwas zu kaufen. Aber dann fiel mir wieder ein, dass ich ein Vampir war und keine menschliche Nahrung zu mir nehmen konnte und dass ich auch lernen musste, mich zu kontrollieren und das würde bestimmt nicht leicht werden.

Nach zwei Stunden hielten wir das erste Mal und die ältere Frau mit der großen Tasche stieg aus. Dafür kamen sechs Männer in Anzügen in unser Abteil und setzten sich auf den Vierersitzplatz uns gegenüber, zwei dahinter. Die Männer waren gut gelaunt und plauderten munter miteinander. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zur Arbeit. Ich schaute wieder aus dem Fenster. Wir fuhren durch ein kleines Städtchen, in dem sich ein Haus ans andere reihte und nur ein schmaler Grünstreifen als Garten diente. Ich meinte, jetzt schon beurteilen zu können, dass ich lieber auf dem Land lebte als in einer Stadt. Der Zug fuhr wieder an. Bäume, Büsche und Felder rasten vorbei und verschwammen zu einem Farbverlauf aus braun, gelb und grün. Die Männer neben uns unterhielten sich weiter und lachten. Ich schaute auf die Uhr: 7:40 Uhr. Die Zeit verging schleichend langsam. Ich blickte wieder raus und wieder auf die Uhr: 7:42 Uhr.

„Bist du schon aufgeregt?", fragte Jace plötzlich.

Ich wandte mich erstaunt zu ihm. „Wieso?"

„Ich war auch aufgeregt, als ich das erste Mal in eine Stadt kam und dann direkt Paris. Ich war ja vorher noch nie in einer Stadt gewesen, die mehr als tausend Einwohner hatte. Du auch nicht, oder?"

Ich nickte. Wenn man auf unsere Schule ging, kam man überhaupt nicht dazu, vor dem Abschluss in die Stadt zu fahren. Nur die Schüler, die in den Ferien nach Hause fuhren, hatten Erfahrungen mit dem Stadtleben. Aber da meine Zieheltern im Dorf gewohnt hatten und wir Kinder auch dort zur Grundschule gegangen waren, hatte ich keine Ahnung, wie man sich in einer Großstadt verhalten musste.

„Da, siehst du?" Jace zeigte aus dem Fenster. Ich folgte seinem Deut und konnte in der Ferne eine dünne schwarze Linie ausmachen, die das Grün der Wiesen von dem Blau des Himmels trennte. Ich schaute zu meinem Bruder. Er nickte lächelnd.

Während der restlichen Fahrt konnte ich meinen Blick nicht mehr abwenden, während die Linie immer dicker wurde, je näher wir kamen. Irgendwann konnte man schon Konturen erkennen: Hochhäuser, kleine Häuser, Reihenhäuser, Leuchtreklame und den Eiffelturm. Dann kamen wir immer näher und schließlich ratterte der Zug an den ersten grauen Bauten vorbei. Mein Herz schlug schneller. Wir waren in Paris angekommen.

Tränen von BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt