Ich hatte es rausgezögert bis zur letzten Sekunde. So lange, dass es inzwischen dunkel war. Sterne blinzelten von einem samtschwarzen Himmel herab, seit die Lagerfeuer der anderen Schüler runtergebrannt waren. Stockfinstere Nacht hüllte mich in ihren Mantel. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Ich fröstelte. Das Meer spülte kühle Nachtluft an den Strand, die langsam vorbei an fiedrigen Grasbüscheln zu mir hinaufkroch. Gut möglich, dass ich weniger gefroren hätte, wenn ich mehr als ein Achselshirt und kurze Sporthosen zu meinen ausgetretenen Basketballschuhen getragen hätte.
Schwerfällig stand ich auf und hob mit klammen Fingern meinen Rucksack auf. Suchend tastete ich nach unserer halbleeren leeren Flasche Schnaps. In der Dunkelheit konnte ich nur vermuten, wo sie lag. Huxley und Lou-Ella hatten den Fusel dagelassen, als sie kichernd und schwankend, Arm in Arm, den Weg zum Waschhaus raufgetorkelt waren. Mich hatten sie in der Gesellschaft billigen Alkohols mir selbst überlassen. Allein mit all den üblen Vorahnungen und dem nagenden Gefühl des Versagens. Dass das Schuljahr unterirdisch gelaufen war, kam nicht aus heiterem Himmel. Dass es sich auf dem Papier so übel las, machte mir doch schwer zu schaffen.
Fest umklammerte ich mit einer Hand den Riemen meines Rucksackes und mit der anderen den Hals der Flasche. Auf mich gestellt, während mein bester Freund irgendwo in den Dünen unsere beste Freundin vögelte. Aber das war okay, redete ich mir ein. Helfen konnten mir die beiden heute ohnehin nicht. Durch diese Sache musste ich allein durch. Eingebrockt hatte ich sie mir auch selbst.
Der Weg durch das kleine Waldstück war etwas mühsam.
Dunkelheit.
Alkohol.
Baumwurzeln.
Dann erreichte ich den Weg, der zum hinteren Tor des umzäunten Grundstückes führte, wo ich erst den Rucksack über den mannshohen Zaun schleuderte. Mit Mühe quetschte ich mich durch die beiden Torflügel, die von einer Kette mit Vorhängeschloss zusammengehalten wurden. Auf der anderen Seite sammelte ich meine Habseligkeiten wieder auf und stolperte weiter vorwärts, vorbei an der Scheune, wo Derrick den Aufsitzmäher, Werkzeug und unvermietete Mobilheime lagerte. Dahinter tauchte ich ein in den Lichtkegel einiger Lampen, die die Wege bis zum Waschhaus erleuchteten. Pinkeln. Das wäre eine gute Sache, bevor ich Dad gegenübertrat und mir in die Hosen machte vor Angst.
Die letzten Meter zogen sich wie ein Gummiband. Leute waren um die Zeit eigentlich kaum noch wach. Nur bei den Sullivans rührte sich was. Um eine Feuerschale saßen bestimmt zehn Leute herum und als ich vorbeiging, hoben einige den Kopf. Der alte Sullivan nickte mir zu. Von seiner Frau war nichts zu sehen. Anna, die Enkelin der beiden, saß in eine Decke gewickelt, auf einem Lehnstuhl. Auf ihrem Schoß lag ein Buch, das sie nicht beachtete. Lieber musterte sie mich aus ihren grünblauen Augen. Ob es sich schon bis zu ihr rumgesprochen hatte, dass wir ein weiteres Jahr zusammen Schulbus fuhren?
Sie legte den Kopf ein wenig schief, ihr Blick folgte mir aufmerksam. Mann, echt. Ich wünschte, sie würde das mit diesem Röntgenblick mal lassen. Man wusste einfach nie, was in ihrem Hirnkasten abspielte, weil sie schweigsamer war als ein scheiß Tisch. Gleichzeitig schien ihr nichts zu entgehen. Schon gar nicht, dass ich ziemlich Schlagseite hatte und es mal wieder gar nicht half, einen Punkt in der Ferne zu fixieren. Meine Füße verfingen sich ständig in etwas und mein Körper war auf einer Seite schwerer als auf der anderen. Wie sollte man denn da geradeaus laufen?
Die letzten Meter nach Hause waren eine Tortur. Eigentlich hatte ich mir doch Mut angetrunken? Nur schien der mich irgendwo zwischen Tor und dem schmalen Weg zu unserem Trailer verlassen zu haben. Angst lag wie eine Kanonenkugel in meinem Magen und ein bitterer Geschmack klebte auf meiner Zunge. War mir schon die ganze Zeit so speiübel? Ich erinnerte mich nicht...
Mit zitternder Hand streckte ich den Arm aus. Fasste nach dem Griff der Tür. Über die Schulter ein kurzer Blick. Anna sah weiterhin zu mir. Ihre sonst meerblauen Augen wirkten in der Dunkelheit nachtschwarz. Fuck. Warum sah sie nicht einfach weg wie alle anderen? Was war sie überhaupt noch auf? Mit dreizehn sollte sie längst im Bett sein, statt Zeugin des sich abzeichnenden Dramas zu werden. Und wieso waren die Sullivans so verdammt gesellig? Ich hätte das hier liebend gerne ohne Publikum hinter mich gebracht!
Weiter verweilte meine Hand auf dem Türgriff.
Ich schluckte gegen das seltsame Brennen im Hals an, das meinen Kehlkopf verätzte. Leise zog ich die Tür auf. Stieg lautlos auf den Tritthocker. Mit Glück war Dad schon besoffen eingepennt. Die Schiebetür vor Elaines und meinem Bett war verschlossen. Das leise Schnarchen meiner Schwester war zu hören. Mum und Dad jedoch waren beide wach.
Was war ich doch für ein Glückspilz! Dann hatte ich wenigstens Mum, die auf meiner Seite stand, selbst wenn sie nie einen Mucks von sich gab, um Dad zu bremsen, wenn er in Fahrt kam.
„Ach, sieh an. Wer kommt denn da? Mein missratener Sohn!" Dads Stimme klang schleppend. „Hast wohl Deinen Abschluss gefeiert, was?" Er wusste es. Verdammt.
Konnte ich lügen? Behaupten, ich hätte bestanden? Eine Sekunde schwankte ich innerlich, wie mein Dad körperlich.
Vielleicht hätte ich es kommen sehen, wenn ich nicht selbst getrunken hätte.
Doch so erwischte mich seine Faust völlig unvorbereitet. Ich taumelte leicht zur Seite. Der kupfrige Geschmack von Blut, er breitete sich in Lichtgeschwindigkeit in meinem Mund, im ganzen Rachen aus. Dort mischte er sich mit der Übelkeit und ich würgte. Die nächste Rechte streifte das Kinn nur, tat aber nur halb so weh wie das gezischte „Versager", das Dad ausspuckte. Zusammen mit Speicheltröpfchen flog mir das Wort um die Ohren und explodierte in meinem Herzen. Meine Lippe blutete. Mein Herz brach.
„Du bist ein Nichtsnutz!", brüllte mein Vater. Ein Speichelfaden hing in seinem Mundwinkel und wie in Zeitlupe tropfte er auf sein unrasiertes Kinn.
Innerlich schrie ich. Mum! Tu was! Irgendwas. Doch sie saß da wie erstarrt. Die Augen weit aufgerissen. Als Dad erneut ausholte, drehte sie den Kopf zur Seite. Sie ertrug den Anblick nicht. Den Schwinger in meinen Magen sah sie nicht mehr. Ich spürte ihn bis tief in meine Eingeweide. Er erschütterte meinen Magen, meine Seele und meine Knie gaben nach.
Seinen Tritt sah ich nur aus dem Augenwinkel kommen. „Denkst du ich zahl ein weiteres Jahr für ein faules Stück Scheiße?"
Etwas lief über meine Wange. Blut, vielleicht Tränen. Sicher war ich nicht.
„Das reicht jetzt, Ben."
Tief und rau vom Rauchen seiner Pfeife durchdrang die Stimme des alten Sullivan den Nebel, in den sich mein Geist gerade zurückzog. Es war ein wundervoll ruhiger Ort, friedlich und hell ohne die dunklen Wolken schierer Verzweiflung. Kühle Hände hoben vorsichtig meinen Kopf an.
„Schafft ihn hier raus." Die alte Sullivan. „Anna verschwinde, du hast hier nichts verloren!", knurrte sie im nächsten Moment wie eine Wölfin.
Anna.
Anna war hier. Sie hatte alles mitbekommen. Die Übelkeit ließ mich würgen. Wenn sie es rumerzählte...
„Erin, du bist eine Schande!", warf die Sullivan meiner Mutter vor. „Wie kannst du das mit ansehen? Woche für Woche? Jahr für Jahr? Worauf zur Hölle wartest du? Wie lange willst du noch wegsehen, wenn dein Mann eure Kinder täglich ein klein wenig mehr umbringt? Er nimmt ihnen ihr Leben, er nimmt ihnen die Kindheit. Begreif das doch!"
„Aber was soll sie denn tun?", wollte ich fragen. „Sie ist doch längst selbst gestorben!" Doch ich brachte keinen Ton über meine Lippen, die sich wund und geschwollen anfühlten.
Mrs. Sullivan wendete sich wieder an die Männer, die in einem ungeordneten Haufen vor unserem Wohnwagen standen. „Bringt den Jungen endlich hier raus! Wozu seid ihr denn hier? Zum Maulaffen feilhalten?"
Die Frau, die Anna so unfassbar ähnlich sah, kniete noch immer neben mir. Zorn loderte in ihren Augen auf und in meinem Herzen Dankbarkeit.
„Alles wird gut, Carter", versprach sie mir und streichelte über meinen dröhnenden Kopf. „Wirst sehen."
Ob alles gut würde, war mir in diesem Augenblick scheißegal. Heute Nacht musste ich nicht hierbleiben, das war das Einzige, was für mich zählte. Nur musste ich irgendwann zurück. Aber nicht heute, nicht morgen. Irgendwann...
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BLINDFOLDED - Blindes Verstehen
ChickLitCarter ist ein Held! - Ein Frauenheld! Er ist einer jener Männer, die uns Frauen den Blick verschämt senken lassen, wenn wir ihm beim Bäcker, beim Tanken oder gar im Baumarkt begegnen. Weil wir glauben, einem Traummann wie ihm niemals zu genügen. Er...