VIER

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„Wir haben ein Problem, Carter. Ruf mich an, sobald du kannst." Seit der Sache mit Candy waren drei Tage vergangen, als mich diese Textnachricht von Anna erreichte. Mein Magen krampfte sich in unguter Vorahnung zusammen. Sofort stellte ich meine Gedanken an Candy, ihre heißen Kurven und die mehr als fähigen Lippen auf Eis und schwang stattdessen die Füße von der Couch. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, Blut rauschte in meinen Ohren, weil ich mich zu schnell aufgesetzt habe.
Elaine. Oh. Gott. Ich. Wusste. Es.

Es war ein Fehler. Ein entsetzlicher, nie gutzumachender Fehler.
„Was ist mit ihr?" Atemlos lauschte ich in den Hörer.
„Elaine geht es gut. Ehrlich." Annas Stimme klang beruhigend, passte überhaupt nicht zur Nachricht. Der Umstand ließ meine Anspannung weiter nach oben klettern. Etwas stimmte nicht. Ich spürte es mit jeder Faser, je länger sich das Schweigen dehnte, desto fester spannte sich meine Hand um das Telefon.
„Dein Dad hat Elaine bis Ende Januar von der Schule abgemeldet. Er will, dass sie mehr Zeit hat, zu entscheiden, wo sie in Zukunft wohnen will."
Stille herrschte in der Leitung, während Anna mir die Möglichkeit gab, die Information zu verarbeiten.

Wohnen.

Die Bedeutung sickerte nur ganz langsam durch meine grauen Zellen. Ebenso wie die Bedeutung des Zeitrahmens.
„So lange bekomme ich im Leben nicht frei!", platzte es aus mir heraus. Und so lange konnte ich Annas Zeit ebenfalls nicht beanspruchen. Über die Feiertage hatte die Tanzschule geschlossen, in der sie als Putzkraft arbeitete, und im Café übernahm sie im Augenblick die Frühschicht, wenn Dad arbeitete und Elaine ausschlief. Das alles ging bereits weiter über nachbarschaftliche Hilfe hinaus als ich es jemals geplant hatte. Doch Anna war extrem gewissenhaft darin, sich um meine Schwester zu kümmern und meine Dankbarkeit dafür war grenzenlos.

„Ich weiß", hörte ich Anna betroffen sagen. „Deshalb habe ich dich ja angerufen. Damit du irgendwie planen kannst und es nicht erst hier erfährst."
Einen Plan machen. Das sagte sie so einfach!
„Und wie soll der Scheiß-Plan aussehen?", brauste ich auf. Ich hörte wie Anna leise seufzte. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Sie war die letzte, die an der Misere Schuld hat. Aber der Überbringer der schlechten Nachricht war bekanntlich immer der Arsch.
„Keine Ahnung, Carter. Aber wir werden schon eine Lösung finden, okay? Du darfst jetzt nur nicht gleich die Nerven verlieren."
Um Geduld bemüht massierte ich meine Nasenwurzel. In meinem Kopf herrschte ein Schneegestöber unzusammenhängender Gedanken. Einen Einzelnen zu fassen und festzuhalten, war mir unmöglich. In mir klaffte ein schwarzes Loch das mit seiner geballten Ratlosigkeit einfach jedes Partikelchen Rationalität in seinen Abgrund saugte. Ich wollte aus rein egoistischen Gründen überhaupt nicht nach Florida. Nicht einmal kurz. Länger schon gar nicht.

„Ich überleg mir was", stöhnte ich gequält.
„Okay. Tut mir leid, Carter, dass sich die Sache so entwickelt hat. Wir hören uns."
Wenn Anna nur nicht so verzagt geklungen hätte. Wenn sie ein wenig mehr Optimismus verbreitet hätte. Mit den Fingern fuhr ich durch meine Haare riss den Kalender von der Wand. In der Küche klatschte ich ihn auf den Tisch. Flocken wirbelten aus dem Aschenbecher und setzten sich schmutzig grau auf der Tischplatte ab, schwebten tot und leblos wie meine verbrannten Hoffnungen zu Boden.
Bis Ende Januar. Ratlos starrte ich auf den Kalender.

Das waren mehr Tage als ich Jahresurlaub hatte. Und was war mit Candy? Die konnte ich ja auch schlecht für Wochen aufs Wartegleis parken! Gerade jetzt, wo ich sie mit Unmengen von Textnachrichten zu einem Treffen überreden konnte.
Andererseits konnte ich auch Elaine nicht einfach unten in Florida sitzen lassen. Wie sollte ich meine Schwester überzeugen, mit mir zurückzukommen, wenn ich nicht da war? Wer passte auf sie auf, wenn Anna arbeitete und Dad auf blöd zu besoffen war, um geradeauszuschauen?
Wütend schlug ich mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte. Mahnend klirrten die Gläser neben der Spüle, die noch darauf warten, gespült zu werden, erinnerten mich daran, ich mehr riskierte als ein paar Glasscherben, wenn ich jetzt den Kopf verlor.
„Fuck", fluchte ich laut. Weil es keinen messbaren Einfluss auf mein Frustrationslevel hatte, schrie ich meine angestaute Wut etwas lauter raus.
„Fuck. Fuck. Fuck."
Ich verschränkte die Hände im Nacken. Tief atmete ich durch. Es gab nur eine verdammte Lösung! Ich musste unbezahlten Urlaub nehmen oder schlimmstenfalls kündigen und mir in Florida übergangsweise Arbeit suchen.
Panik flackerte in mir auf. Mein Job war Elaines und meine einzige Lebensgrundlage. Alles, was wir hatten, stand und fiel damit, dass ich jeden Monat gerade soviel nach Hause brachte, dass ich die Wohnung halten konnte, in der Elaine und ich lebten. Was, wenn ich den Job im Februar nicht zurückbekam? Was, wenn ich die Wohnung kündigen musste? Dann war alles, was Mum riskiert hatte, buchstäblich für nichts gewesen!

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt