EINUNDVIERZIG

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Nach dem Shopping hätte ich Anna gerne noch zum Essen eingeladen, doch mit Blick auf die Anschaffungen lehnte sie es kategorisch ab, noch einen einzigen weiteren Cent auszugeben, sondern bestand darauf, dass wir uns selbst etwas kochten. Mein Einwand, der Herd im Airstream sei zu schmutzig, wischte sie mit einer resoluten Geste beiseite.

„Wir kochen in Töpfen, Carter, und legen das Essen nicht direkt auf den Herd. Also wird es schon gehen", erklärte sie im Brustton der Überzeugung. Zur Vorsicht kaufte sie aber Ofen- und Herdreiniger, der kurz darauf auch großzügig zum Einsatz kam. Während ich am Herd herumkratzte, nahm Anna sich der beiden alten Kissen an, die ich von Dad geerbt hatte und stopfte sie in eine freie Waschmaschine. Das gleiche widerfuhr auch meinen Neuerwerbungen. Auch diese Kissen durften zwei Stunden in heißer Lauge schwimmen, bevor sie im Trockner landeten.

Während ich mich damit abrackerte, die gröbsten Verkrustungen vom Herd zu entfernen, turnte Anna auf einem äußerst wackeligen Klappstuhl herum. Bewaffnet mit einem Maßband versuchte Anna herauszufinden, wieviel der mit weißem Kunststoff ummantelten Schnur sie zwischen den beiden Wänden spannen musste, die mein Bett begrenzten. Anschließend drängte sie sich an mir vorbei und legte die Schnur, die sie irgendwo aus dem Boot ihrer Großeltern gezogen hatte, auf meine Sitzbank. Sorgfältig maß sie die Schnur ab und schnitt sie durch. Bei der Enge im Airstream war kaum zu vermeiden, dass wir uns dabei gelegentlich berührten. Und vielleicht stand ich auch beim Putzen gar nicht so nahe am Herd, wie es eigentlich möglich wäre. Einfach nur, damit Anna mich noch einmal mehr streifte.

Anna fädelte sie beide Enden ihrer Aufhängung in die Metallhülsen zweier Ösen und bog diese mit Hilfe einer kleinen Zange zu. Dann schlängelte sie sich wieder an mir vorbei und markierte auf meinem Bett stehend zwei Punkte an den Wänden. Tief in mir sammelte sich ein Gefühl der Anspannung, ausgelöst durch all die winzigen Beinahe-Berührungen auf engstem Raum. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Anna auf dem Bett balancierte und mit äußerster Konzentration versuchte, einen Haken in die Holzverkleidung zu schrauben. Diese schien robuster zu sein, als meine kleine Innenarchitektin angenommen hatte und erst nach ein paar deftigen Flüchen gelang es Anna, die nötige Aufhängung zu befestigen. Auf der anderen Seite wiederholte sich das Spiel zunächst. Mein Angebot, ihr zu helfen, lehnte Anna aber mit dem Hinweis ab, meine Aufgabe wäre es, zu kochen. Erst als sie die beiden Vorhangschals, die wir gekauft hatten, auf ihre Leine gefädelt hatte, war sie bereit, auf mein Angebot zurückzukommen und ich durfte die beiden Ösen über die Haken hängen und diese dann so weit in die Wand drehen, dass die Aufhängung gespannt war.

Zwei weitere Haken später hatte Anna die beiden Schals mit einem breiten Band wie bei einem Himmelbett zur Seite gebunden, die Lichterkette mit den winzigen LEDs zwischen den beiden Stoffbahnen arrangiert und oben ein paar Mal um die Leine geschlungen.

„Und? Gefällt es dir?"

Um ihr die volle Aufmerksamkeit widmen zu können, die ihre Mühe ohne Zweifel verdiente, drehte ich das Gas ab. Anna saß auf meinem Bett. Die Fersen hatte sie unter ihren Hintern gezogen und ihre helle Haut bildete einen faszinierenden Kontrast zu meiner dunklen Bettwäsche. Eingerahmt von den weißen Vorhängen und den vielen winzigen, glitzernden Lichtern sah Anna wunderschön aus. Keine Ahnung wie ich das, was ich in diesem Augenblick empfand, in Worte fassen sollte. Sie hatte sich nur für mich so unglaubliche Mühe gegeben, den verwohnten Innenraum ein bisschen schöner zu gestalten. Wie sollte man sie dafür nicht auf Händen tragen wollen? Wie könnte man sie nicht schon allein dafür lieben?

Einer Frau zu sagen, dass sie sexy war, dass sie mich anmachte und ich sie vögeln wollte, war nie ein Problem. Doch um Anna zu sagen, dass ich diesen Augenblick und das Gefühl der Wertschätzung, das sie mir gab, für immer festhalten wollte, dafür verfügte ich nicht annähernd über die richtigen Worte. Also starrte ich sie einfach an wie der letzte Vollidiot und prägte mir ihren Anblick ein. Den erwartungsvollen Blick ihrer meerblauen Augen, die rot angehauchten Wangen in ihrem zart gebräunten Gesicht und den goldenen Schimmer hunderter Sommersprossen, eingerahmt in ihre rote Mähne, die sich bei Regen noch etwas mehr lockte als sonst. Prägte mir ihre schmale gerade Nase ein, deren Spitze dazu einlud, ein Küsschen nach dem anderen darauf zu hauchen und fuhr mit den Augen ihre Lippen nach, die sich, je länger ich sie anstarrte, zu einem verlegenen Lächeln formten. Ihre Wangen wechselten zu einem dunkelrosa und ihr Brustkorb hob und senkte sich merklich unter ihren angespannten Atemzügen. Obwohl sie ein paar Mal schluckte vor lauter Nervosität und damit meinen Blick auf ihren schlanken Hals zog, senkte sie ihren Blick nicht.

Es war wie dieses alte Spiel aus Kindertagen, bei dem man sich anstarrte, bis es einem von beiden zu viel wurde und derjenige weg sah. Nur dass keiner von uns beiden die Verbindung abbrechen ließ und die Spannung zwischen uns immer intensiver wurde.

Selbst als ich zwei Schritte auf das Bett zu machte, riss der Blickkontakt nicht ab. Anna hob lediglich den Kopf ein wenig und folgte mir auch dann noch mit den Augen, als ich mich auf den Rand des Bettes setzte und ein Bein anwinkelte um mich ihr zuzuwenden. Mit den Händen stützte ich mich rechts und links von ihren Knien auf die Decke.

Erst als ich mein Gesicht langsam ihrem näherte, rutschte Annas Blick nach unten zu meinen Lippen.

„Es gefällt mir sehr gut", flüsterte ich andächtig und streifte sanft ihre Lippen mit meinen. „Du gefällst mir", fügte ich ebenso leise an.

Anna lächelte an meinen Lippen und drückte ihren Mund sanft wie Rosenblätter auf meinen. Es war ein zärtlicher Kuss. Zurückhaltend und so gefühlvoll, dass er wehtat. Irgendwo auf Herzhöhe löste er ein unbekanntes Brennen aus. Eine merkwürdige Sehnsucht, die mich die Hände zu Fäusten schließen ließ. Der Duft von Kaffee, der sich während ihrer Arbeit in Annas Haaren verfangen hatte, umhüllte mich, mischte sich mit dem vertrauten Geruch nach Zimt und diesem Hauch Pfefferminze, der immer an ihr haftete. Ich wollte sie schmecken, ihre Zunge und ihre Leidenschaft spüren. Das Ziehen in meiner Brust rutschte langsam tiefer, wandelte sich von Sehnsucht in ein bohrendes Verlangen.

Nach einem viel zu kurzen Kuss zog Anna sich wieder zurück und ließ mich voller offener Wünsche zurück. Meine Hände, die ich zu gerne in Annas Haaren vergraben hätte, verkrallte ich in den Bezug der Decke. Ich wollte sie weiter küssen, sie auf das Bett drücken und mit ihr...

Stopp! Willst du, wirst du aber nicht. Nicht hier! Auf keinen Fall!

Nachdem ich mich selbst zurückgepfiffen hatte, widmete ich mich wieder den Nudeln, die in ihrem Topf schon fast kalt und etwas matschig geworden waren.

Weil es erneut zu regnen begann, setzen Anna und ich uns drinnen auf die mit Kunstleder bezogene Bank, die dem Herd gegenüber der Länge nach an der Wand montiert war. Weil uns kein Tisch zur Verfügung stand, dieser bildete nämlich einen Teil meines Bettes, setzen wir uns einander gegenüber im Schneidersitz und hielten unsere Teller auf dem Schoß. Mein Bier stellte ich neben mir auf den Boden und Anna stellte ihre Wasserflasche direkt daneben. Wenn das hier ein Ferienausflug gewesen wäre, wäre er durchaus romantisch gewesen. Nur war das hier kein verregneter Urlaubstag. Es war unsere Realität, unser Alltag. Und es konnte ebenso gut ein bitterer Vorgeschmack auf meine Zukunft sein, auf eine Zukunft, in der Anna keinen Platz hätte. Nicht, weil ich mir mit ihr nichts Langfristiges vorstellen konnte, sondern weil sie etwas anderes verdiente. Etwas Besseres als einen ranzigen Trailer aus den späten Siebzigern.

Nach dem Essen spülten wir gemeinsam das Geschirr, bezogen meine neuen Kissen und auch die alten bekamen wieder einen Platz. Die Füllung war zwar noch genauso verklumpt wie vorher. Nach der guten Stunde im Trockner waren die einzelnen Brocken jedoch zumindest flauschig. Um sich nicht gegen die harte Wandverkleidung zu lehnen, reichten sie alle Mal.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt