ELF

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„Du siehst schrecklich aus."
Elaine musterte mich am folgenden Morgen eingehend.
„Bist du krank?" Sie warf ihre Arme um meinen Hals. „Du bekommst keinen Herzinfarkt, oder?", wisperte sie ängstlich.
Fest drückte ich sie an mich. Beruhigend fuhr ich mit der Hand über ihren Rücken.
„Nein, Lainy, alles ist okay. Mir geht es gut. Ich konnte nur nicht gleich einschlafen." Um ihre Zweifel restlos zu beseitigen, wünschte ich ihr mit einem breiten Lächeln fröhliche Weihnachten.
„Wollt ihr noch lange kuscheln wie die Häschen oder kommt ihr mal frühstücken?", ertönt Dads vom Rauchen und Saufen raue Stimme von draußen.
Elaine riss ihre Augen auf und sah so erstaunt aus wie ich. „Seit wann frühstücken wir denn zusammen?", wisperte sie leise.
Ich zuckte mit den Schultern.
Er bemüht sich, Carter.
Offensichtlich hatte Anna damit mehr recht als mir lieb war. Hastig schlüpfte Elaine in Crocs und ich in Jogginghosen und ein Shirt.
„Frohe Weihnachten", grummelte Dad auf seine unvergleichlich wenig charmante Art.
„Krass!" Elaine platzte genau mit meinen Gedanken raus. Dad kratzte sich im Nacken.
„Hoff, ich hab an alles gedacht."
Auf dem Tisch unter dem Vordach stand ein Adventskranz, eine Schale mit Keksen, Milch, Cerealien und ein Teller mit Räucherlachs. Bagels, Baguette und Obst rundeten das Angebot ab.
Vor einem der Gedecke stand ein kleines Holzengelchen mit einer noch winzigeren rosa Kerze, wie man sie von Geburtstagskuchen kannte, was. Was ihn als Elaines auswies. Vor einem weiteren Teller wartete ein Engel mit einer hellblauen Kerze darauf, dass der Docht entzündet wurde.
Ich schluckte. Elaine stand da wie erstarrt. Zorn wallte in mir auf. Mum hat behauptet, die Engel seien beim Umzug verloren gegangen. Dabei waren sie hier. Die ganze Zeit. Dieser Bastard hat sie behalten!
Mit meinen Blicken erdolchte ich Dad, schluckte mit Mühe jeglichen Kommentar. Heute war Weihnachten. Elaine zu Liebe hielt ich einfach den Mund. Weihnachten war nicht ewig und übermorgen noch genug Zeit, Dad unmissverständlich mitzuteilen, was ich von der Scheiße, die er abzog, hielt.
Dad zog umständlich die speckige Hose hoch, bevor er sich setzte. Die ganze Frühstückssache war völlig surreal.
Er gibt sich Mühe.
Kaum zu fassen.
Schweigend reichte Dad mir die Kanne mit Filterkaffee und Elaine inspizierte derweil den goldenen Umschlag, den Dad ihr auf den Teller gelegt hatte. Gespannt beobachtete ich, was sie zu Tage förderte. Ihr Kreischen deutete auf eine große Überraschung hin. Der umfallende Stuhl als sie aufsprang, untermauerte ihre Begeisterung. Strahlend fiel sie unserem alten Herrn um den Hals. Mir reichte ein Blick auf die Eintrittskarte in Elaines Hand. Das Logo war unverwechselbar. Enttäuschung wallte in mir auf. Ich hatte es mir gewünscht. Wieder und wieder. Bekommen hatte es Elaine. Gegen meinen Willen wallte Neid in mir auf und umschlang mein Herz wie eine giftige Pflanze.
Über Elaines Schulter hinweg musterte Dad mich. Ein schmales, selbstgefälliges Lächeln lag auf den Lippen meines Erzeugers. Er wusste, dass er mich getroffen hatte und ihm machte es höllischen Spaß, Elaine und mich gegeneinander auszuspielen.
„Ich wusste nicht, ob du nicht schon zu alt dafür bist", murmelte er entschuldigend, seine Augen blieben jedoch hart und kalt. Wen wollte er veraschen? Kein Mensch war zu alt für Disneyland!
Die Frage wäre wohl eher gewesen, ob ich Bock hatte, ausgerechnet mit ihm nach Orlando zu fahren. Eher... hätte ich mir nachträglich das angeschossene Bein amputieren lassen. Ach, Mann, Scheiße. Wahrscheinlich... vielleicht... wegen Elaine. Damit sie nicht mit ihm allein war.
„Carter! Ich darf übermorgen nach Disneyland!" Mit roten Bäckchen drehte meine Schwester sich zu mir um. Sie sah so überglücklich aus, dass ich zum zweiten Mal heute eine Bemerkung schluckte. Wahrscheinlich brauchte ich den ganzen Tag nichts mehr zu essen, so viel wie ich heute um des lieben Frieden Willen hinunterwürgte.
„Setz dich, Elaine, iss. Wird alles warm", wies Dad meine Schwester an. Er greift nach einem Schlüssel und warf ihn mir rüber.
„Denk damit kannst mehr anfangen als mit Mickey Maus."
Ich fing den Schlüssel aus der Luft.
Auf dem Anhänger stand in verschlungenen Zahlen sechs-zwei-drei.
„Was soll das?", erkundigte ich mich bei Dad. „Die sechs-zwei-drei ist der Stellplatz, wo die Sullivans ihr Boot haben, oder?"
Dad nickte. „Schau es dir einfach an. Vielleicht taugt es dir ja."
Was immer es war, ich nahm mir fest vor, es nicht zu mögen! Ich wollte nicht, dass es mir gefiel. Weil Elaine aber drängte, ich solle mit ihr hingehen, folgte ich ihr schließlich runter in Richtung Meer. Je weiter wir liefen, desto sicherer war ich, dass mir Anna gestern Morgen nicht ganz so zufällig über den Weg gelaufen war, wie ich dachte. Sie hatte was mit der Sache zu tun.
„Ich musste dich irgendwie ablenken", gestand Anna mir ein paar Minuten später. Plötzlich erschien der ganze gestrige Tag in einem anderen Licht. Und der davor auch.
„Dein Dad hat den Wohnwagen gestern in aller Herrgottsfrühe von der letzten Baustelle geholt, auf der mein Grandpa gearbeitet hat. Dass du so ein früher Vogel bist, der im Urlaub bei Sonnenaufgang schon aufstehst, damit hatte keiner gerechnet."
Dad mischte sich in das Gespräch ein.
„Wusste ja, dass du nur wegen Elaine hier bist. Dachte, ein eigenes Dach macht die Sache leichter für alle." Er klopfte mir auf die Schulter, völlig unbedacht und sicher ohne Hintergedanken, doch bei mir schrillen augenblicklich sämtliche Alarmglocken. Mein Rücken versteifte sich, die Schultern verkrampften in einer unbewussten Abwehrhaltung.
„Schau doch mal rein", brummte der alte Sullivan aufmunternd. Alles in mir sträubte sich, dieses verbeulte und zerschrammte Geschenk anzunehmen. Ich wollte es nicht mögen. Doch Elaines Aufregung übertrug sich auf mich ebenso wie Annas bittender Blick verfing. Wie sollte ich Anna und Elaine etwas abschlagen, wenn sie mich ansahen, als würde der Fortbestand des Universums nur von meiner Entscheidung abhängen?
„Was sagst du?" Annas Stimme hinter mir klang ein wenig atemlos, als die Tür lautlos aufschwang. Der Duft nach Putzmittel wehte mir entgegen; Kokos, Limette und ein Hauch von frischem Holz. Darunter drängelte sich mit ausgefahrenen Ellbogen der säuerliche Geruch einer Inneneinrichtung hervor, die über Jahrzehnte hinweg zu oft feucht geworden war.
„Und?" Elaine hopste hinter mir auf und ab, mir fehlten allerdings gerade die Worte. „Gefällt dir der Teppich? Den hab ich gekauft!" Diesmal war ich klüger als am Vorabend und verzog keine Miene wegen des naturweißen Ungetüms, das auf dem Boden vor dem Bett ausgebreitet lag wie ein erschossener Eisbär.
Unsicher sah ich zu Anna. Leise, so leise, dass selbst ich es kaum verstand, flüsterte sie: „Dein Dad hat das Geld nicht angerührt. Elaine hat es selbst ausgegeben."
„Für einen Teppich?" Ungläubig blickte ich in den Wagen und dann zu Anna. Sie stand so nahe hinter mir, dass ich ihren vertrauten Duft einatmen kann.
Zimt.
Mit einem Hauch von Pfefferminze.
„Und für eine Lichterkette, damit es wenigstens irgendwie weihnachtlich ist bei euch", flüsterte Anna eindringlich und ich fühlte mich augenblicklich wie der letzte Vollarsch.
„Das ist reine Wolle!", erklärte Elaine mir, ohne den Austausch zwischen Anna und mir zu bemerken. „Von den allerflauschigsten Schafen, die du dir ausdenken kannst!" Dann setzte sie weniger enthusiastisch hinzu: „Außerdem hast du das Brandloch im Linoleum noch nicht gesehen."
„Jetzt geh doch mal rein", drängte Anna und schob mich durch die Tür.
Schäbig.
Klein.
Schmutzig.
Uralt.
Und trotzdem. Das war nicht nur irgendein Wohnwagen. Er war der Inbegriff des amerikanischen Traums von Unabhängigkeit: ein Airstream! Verdammt noch mal! Ich glaubte es nicht. Er war in einem entsetzlichen Zustand. Innen wie außen trug er Spuren seines bewegten Lebens. Die Möbel wahren zerschrammt und verwohnt, die Außenhaut oxidiert, matt und fleckig und die beiden Gasflaschen so rostig, dass man sie vermutlich nicht mehr auffüllen sollte. Es sei denn man wollt erleben, wie einem Flüssiggas um die Ohren flog. Und trotzdem symbolisierte er für mich Freiheit. Mit dem Finger fuhr ich über die fettige und etwas klebrige Oberfläche der Küchenzeile, besah mir das Bad mit dem stockfleckigen Duschvorhand, dem verkalkten Waschbecken und die dreckigen Fenster. Nach dem Rundgang fand ich in einer verborgenen Ecke meines Gehirns unter einer verfilzten Wolldecke meine Sprache wieder. „Der muss ein Vermögen gekostet haben."
Annas Großvater zuckte mit den Schultern.
„Die dämliche Alte, bei der das Ding im Garten stand, wollte, dass wir es zum Schrottplatz bringen. Zu viele Erinnerungen an ihren längst verstorbenen Gatten." Kritisch sah er sich zwischen den umliegenden Wohnwagen und den Mobilheimen um. „Find, wir haben genau gemacht, was sie verlangt hat."
„Und ihr sagen, dass das Teil nicht verschrottet gehört, darauf seid ihr nicht gekommen?" Aus der Tür heraus, an der kleine Holzablagen für Kleinkram festgeschraubt waren, blickte ich die beiden Männer an, die sich nicht oft einig waren, soweit ich mich erinnerte.
„Ist ja auch nicht so, dass sie ihn geklaut haben, oder so", beschönigte ich die Sache weiter, als ich am Abend mit Robin telefonierte, um nachzufragen, wie ich ihren Bruder erreichte. Spätestens jetzt, wo ein paar Sachen in die alte Aluschachtel reingerichtet werden mussten, brauchte ich mehr als nur einen einfachen Türsteherjob. Jordan war dafür bekannt, dass er aus Scheiße Platin machen konnte und seine Leute verdammt anständig bezahlte.
„Stimmt auch wieder. Und eigener Herd ist Goldes wert, nicht wahr?"
Zweifelnd betrachtete ich den Wagen und die rotorangen Reflexionen die die Abendsonne auf die ramponierte Aluminiumhaut zauberte.
„Das sagst du nur, weil du den Herd noch nicht gesehen hast. Vermutlich muss ich mir ne Flex leihen, damit ich ihn sauber bekomme."
Robin lachte am anderen Ende der Leitung. „Ich hab deinen Humor vermisst, Carter."
Mit den Fingern ordnete ich meine Haare, die vom Schwimmen nass waren und ließ die Bemerkung lieber unkommentiert. Sie musste nicht wissen, dass ich das mit der Flex bitter ernst meinte.
Nachdem Robin mir gesagt hatte, dass ich ihren Bruder am besten mittags im Büro erreichte, stand ich seufzend auf und mogelte mich zwischen Boot und Zaun vorbei zum Strand. An einen der Pfosten gelehnt zündete ich mir meine Abendzigarette mit dem kleinen Extra an, genoss den Geschmack, inhalierte den beruhigenden Rauch. Mit geschlossenen Augen, stellte ich mir Debbie vor, warte auf das bittere, schmerzliche Ziehen in der Brust, das mir sagte, ich hätte mich zumindest ein bisschen verliebt. Ich kannte das Gefühl, jemanden zu vermissen. Wenn ich an Mum dachte, stellte es sich beinahe sofort ein, aber nicht, wenn ich an Debbie dachte. Beim Gedanken an sie zog es woanders; tiefer. Alles was ich aktuell vermisste, war Sex mit Candy. Was stimmte nicht mit mir? Kopfschüttelnd drückte ich die Kippe aus und warf sie auf dem Weg zum Wasser in einen Mülleimer.
Weil uns an jenem Abend nichts verbunden hat. Nur Lust. Candy wollte meinen Körper. Und Debbie keinen Versager. Zwei Seiten derselben Medaille.
Die Hände in den Hosentaschen vergraben, starrte ich auf das Wasser. Zur Boje. Der Boje. Die kleine Meerjungfrau hatte mich echt eiskalt abgezockt. Was sie wohl als Gegenleistung fragen würde? Bei dem Gedanken an Anna und ihre durchdringend blauen Augen wurde mir etwas mulmig. Sicher wollte sie nicht wissen, wie oft pro Woche ich mich rasierte oder ob ich ungetoastetes Brot genauso liebte wie sie.
Details.
Anna wollte sicher Details. Und ich wollte sie wegen dieser nicht verlieren.
Einen Augenblick blieb mir die Luft weg. Das Ziehen in meiner Brust war so mächtig, dass ich drei Atemzüge brauchte, um zu kapieren, dass ich gerade nicht daran gedacht habe, Elaine könnte etwas zustoßen. Oder daran, dass Mum für immer fort war.
Lange starrte ich auf das Wasser, lauschte dem unregelmäßigen Rauschen der Wellen. Langsam sank die Sonne tiefer, nahm das hoffnungsvolle, beinahe goldene orange-rot mit sich und hinterließ passend zu meiner schwermütigen Stimmung ein dunstiges Grau. Je mehr der Tag verblasste, desto mehr verebbte meine Hoffnung, mich aus der Sache mit der bekloppten Frage rauswinden zu können. Gedankenverloren rieb ich mit der flachen Hand über die Narbe an meinem Oberschenkel. Sie würde die Frage stellen, was damals passiert war. Irgendwann. Und wenn sie ihre Antwort hörte, würde Anna mich fortan meiden. Mich schneiden. Ihre blauen Augen würden mich nicht mehr aufmerksam beobachten, sondern sie würde zur Seite blicken oder auf ihre Füße, wenn wir uns begegneten. Sie würde in mir das Monster sehen, das ich in Wirklichkeit war.
Sie würde es hinter vorgehaltener Hand anderen weitererzählen und nach und nach würde ich alle verlieren, die ich liebte, die mir wichtig waren und denen ich einmal wichtig war. Es würde sein, als wäre ich tot, obwohl ich noch unter ihnen lebte. Und bitte! Wem wollte ich etwas vormachen? Es war das, was ich für mein Versagen verdiente.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt