Hastig schnappte ich mir ein Shirt vom Fußende und eine kurze Hose vom Boden. Eine gute Prise Deo, großzügig über den Körper verteilt, komplettierte mein Outfit. Gerade wollte ich den Wohnwagen verlassen, als die Tür aufgerissen wurde.
„Was zur Hölle?“, fluchte ich, als helles Sonnenlicht meinen abgedunkelten Maulwurfbau flutete.
In der Türöffnung zeichnete sich ein kleines zierliches Mädchen ab und meine gereizte Stimmung verflog, als sie die zwei Stufen heraufhopst wie ein kleines Vögelchen auf Futtersuche. Dankbarkeit wallte in mir auf, dass eine höhere Macht die Hand in der vergangenen Nacht seine Hand über meine Schwester gehalten hatte und sie vor Schlimmerem geschützt hatte.
„Das Faultier ist also aufgewacht?“, frotzelte Elaine frech und es schien tatsächlich, als hätte sich das boshafte, mit Krallen bewehrte Monster, das tief in meinen Wunden gewühlt hatte, wieder zurückverwandelt in meine Schwester.
„Ich habe nicht geschlafen. Ich lag im Koma! Unterzucker“, belehrte ich Elaine und wuschelte durch ihr Haar. „Und wer hat dir zur Flucht aus dem Krankenhaus verholfen?“
„Dad. Er hat unterschrieben, dass ich auf seine Verantwortung gehen kann, weil doch Mrs. Sullivan direkt nebenan wohnt und er meinte, da sei ich besser betreut als im Krankenhaus.“ Sie grinste. „In jedem Fall ist das Essen hier besser und es gibt frische Luft und Sonne und so.“
„Das Essen bei Dad ist besser?“ Daran zweifelte ich mal ganz pauschal und auch Elaine lachte.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals mehr zu Wege gebracht hat, als belegten Toast und Haferflocken mit Milch. Aber Pizza kann er bestellen, so viel ist sicher“, gab sie fröhlich von sich. „Aber eigentlich meinte ich das Essen bei Granny Sullivan und Anna.“
Bei der Erwähnung letzterer hüpfte mein Herz kurz, schlug einen Salto und rollte sich dann zufrieden hinter meinem Brustbein zusammen.
„Deswegen bin ich eigentlich auch hier. Anna sagt, ich soll gucken, ob du wach bist und ob du vorm Training was essen willst, denn dann muss Anna ungefähr drei Mal so viele Nudeln kochen, behauptet Granny Sullivan.“
Elaine setzte sich bereits wieder in Bewegung und ich folgte ihr. Nudeln zum Frühstück war schon speziell. Ein paar Kohlenhydrate im Magen schadeten aber sicher nicht, wenn ich die nächsten Stunden überleben wollte.
„Nudeln vorm Training klingen verdammt gut. Wobei ich glaube, dass Granny ein wenig übertreibt, was die Menge angeht. Was gibt es dazu?“ Elaine rümpfte ihre Nase und ich wusste bevor sie antwortete, dass es etwas mit Fisch zu tun haben musste.
„Annas Grandpa hat letzte Nacht zwei Fallen voller Shrimps rausgezogen. Obwohl die Saison eigentlich schon fast rum ist“, maulte Elaine auch prompt.
„War echt unverschämtes Glück. Die letzten Tage war mir nichts ins Netz gegangen“, grummelte Mr. Sullivan in Ergänzung zu Elaines Bericht. „Dacht schon ich kann es bis zum Sommer gut sein lassen. Keine Ahnung, was die Viecher angelockt hat. Bei Vollmond würd ich sagen, es war das Licht. Aber so?“ Grandpa Sullivan zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht haben die vom Sanatorium ne Nachtwanderung gemacht? Oder die Touris?“, schlug mein Dad vor, der zu meinem Leidwesen auf der Sullivan-Seite der Hecke stand und sich am Gespräch beteiligte.
Ich grinste in mich hinein. Oder es war ein Typ mit seinem Mädchen nachts am Strand, wo die beiden im Schein der Lampe rumgeknutscht hatten. Anna, die in diesem Augenblick aus der Tür tritt, schien den gleichen Gedanken zu haben. Ihre Augenbrauen hoben sich minimal, bevor sie wissend lächelte. Ich grinste zurück und verfolgte, wie meine kleine Perle mit ihrer Salatschüssel zum Tisch ging. Wie immer an sehr sonnigen Tagen, trug sie zu ihren abgeschnittenen Jeans ein weißes, langärmeliges Oberteil mit dem sie die Hautpartien schützte, die sie als Sonnenterassen bezeichnete. Ihr rotes Haar hatte sie locker im Nacken zusammengefasst, aber wie immer machten die Locken einfach, was sie wollten. Als letztes fiel mein Blick auf ihre Füße. Der kupferrote Lack der letzten Nacht war einem hellen blau mit weißen Tupfen gewichen.
„Hey, Carter!“ Mein Lächeln erstarb zusammen mit meiner Phantasie von Fußmassagen und den Möglichkeiten, die diese eröffnen könnten. Möglichkeiten, bei denen es um lange helle Beine geht. Und um meine Lippen, die daran hinaufwanderten. Hux, zu sehen, der hinter Anna aus dem Wagen auftauchte, war wie ein Eimer kaltes Wasser gezielt in meinen Schritt geschüttet. Sein Blick pappte ungeniert an Annas Hintern. Ganz eindeutig der Augenblick, für klare Verhältnisse bei dieser Veranstaltung zu sorgen. Shrimps konnte Hux haben so viele er wollte. Meinetwegen sogar meine. Aber Foxy gehörte mir. Sobald Anna ihre Schüssel mit Salat abstellte, ging ich sofort zum Angriff über, umfasste ihre Taille und drehte sie zu mir. Obwohl ich aussah, als hätte ich in einem Altkleidercontainer gepennt und trotz des Deos sehr wahrscheinlich ähnlich roch, strahlte Anna heller als die Sonne. „Guten Morgen“, wünschte ich ihr etwas verspätet und schlucke gerade noch das „Babe“ am Ende des Satzes, das ich routinemäßig für alle Mädchen als Kosenamen verwendete. Als hätten wir das hier schon tausendmal gemacht, legte sie ihre Finger auf meine Brust und reckte sich mir bereits entgegen, während ich mich zu ihr hinunterbeugte.
„Guten Morgen“, murmelte sie kurz bevor mein Mund auf ihren traf. Hätte das Meer nicht im Hintergrund gerauscht, man hätte mit Sicherheit eine Nadel fallen hören, als sich unsere Lippen berührten. Meine Hand lag tief auf Annas Rücken und markierte deutlich mein Revier. Anna lächelte flüchtig an meinen Lippen. Man konnte darüber streiten, ob es vor Publikum nötig war, aber ich konnte einfach nicht widerstehen, an ihrer Unterlippe zu knabbern.
Nur aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Huxley uns sekundenlang ungläubig anstarrte und dann wütend davonstürmte. Ohne Zweifel stand mir ein Haufen Ärger bevor, der mir gerade völlig am Arsch vorbeiging. Den Arm um Annas Schultern gelegt grinste ich sie auf sie hinunter, bevor ich den Blick hob und mich den noch Anwesenden stellte.
Elaine kicherte leise und Dad brauchte einen Augenblick, um gedanklich zur Entwicklung aufzuschließen. Die Sullivans wirkten jedoch völlig unbeeindruckt. Grandpa widmete sich dem Grill, auf dem mit wenigen zügigen Handgriffen die Garnelen landeten und Grandma Sullivan rührte in den Nudeln, als wäre es das natürlichste der Welt, dass Anna und ich uns neuerdings küssten.
„Nachdem Hux offenbar seinen Appetit verloren hat, könntest eigentlich du mitessen, Ben?“, wendete sich Mr Sullivan meinen Dad an. Annas Grandpa deutete auf den sechsten Teller am Tisch. „Setz dich. Bier kommt gleich.“
„Ich…“, begann Dad und verstummte in dem Moment, als der Alte zwei Flaschen Alkoholfrei auf den Tisch stellte. Ein schmales Lächeln umspielte Dads Lippen, als er das Bier betrachtete.
„In Gesellschaft ist es noch immer schwer.“ Die Offenheit seines Geständnisses ließ mich aufhorchen. Die Wahrheit hinter seiner Aussage war ebenfalls nicht zu übersehen.
„Ist wohl nicht immer leicht sich dagegen zu entscheiden?“, will Anna wissen und umarmte meine Taille etwas fester. Sicher dachte sie gerade an unser Gespräch am Vorabend und die Unmengen Gras, die ich vernichtet hatte.
Annas Offenheit taute meinen Dad weiter auf und er schüttelte zur Bestätigung langsam den Kopf. Seine Hände zitterten leicht.
„Ich meide solche Situationen, wann immer es geht. Gehe mittags ohne die Kollegen essen. Such Restaurants, wo es nur Softdrinks gibt. Aber manchmal, grad auf den Baustellen, ist es schwer. Der Hausherr bietet Bier an und du fragst nach Wasser. Schon biste ein komischer Kauz. Die Kollegen gehen Feierabendbier trinken. Ich geh nach Hause. Wird einsam mit der Zeit.“
Mitgefühl wallte ungeplant in mir auf. Verständnis. Ich hatte mich auch gegen Alkohol entschieden. Entschied täglich aufs Neue, wenn auch aus anderen Gründen. Es war der, den ich jedem nannte, der danach fragte: Die Sucht meines Vaters hatte unsere Familie und einen großartigen Vater einfach unwiederbringlich zerstört.
Damit war ich jedes Mal raus. Niemand bot mir nach dieser Erklärung je wieder Alkohol an. Meine Begründung wog schwer genug, mich in Ruhe zu lassen. Über Dads Motive konnte ich nur spekulieren. Offensichtlich hatte Anna recht behalten. Er war trocken und kämpfte sich täglich ab, es zu bleiben. Ich schluckte trocken. Es würde mich brennend interessieren, warum. Nur war meine Kehle vor Angst zugeschnürt wie ein alter Müllsack. Was, wenn er aus den richtigen Gründen aufgehört hatte, nur viel zu spät? Müsste ich ihn dann nicht weniger verabscheuen? Ihn unterstützen? Würde nicht jeder von mir erwarten, dass ich ihm verzieh?
„Warum hast du entschieden aufzuhören? Was war der Grund, nein zu sagen?“ Annas Frage trifft mich wie ein Blitz aus dem Nichts. Blind verstand sie, was mich am brennendsten interessierte. Ohne mich auch nur anzusehen, schien sie genau zu spüren, was mich bewegte.
Dad schien Anna mit ihrer beinahe schon indiskreten Frage auch kalt zu erwischen. Er zögerte mit seiner Antwort. Sah in die Runde. Rieb ein paar Mal über seinen Bart. Erst nach kurzer Bedenkzeit antwortete er.
„Die Liebe meines Lebens ist einsam gestorben. Mein Sohn hasst mich und meine Tochter habe ich auch verloren. Ich will bis an mein Lebensende einen klaren Kopf bewahren, um mich zu erinnern, dass das alles meine Schuld ist und dass es in meiner Hand lag, etwas zu verändern.“
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BLINDFOLDED - Blindes Verstehen
ChickLitCarter ist ein Held! - Ein Frauenheld! Er ist einer jener Männer, die uns Frauen den Blick verschämt senken lassen, wenn wir ihm beim Bäcker, beim Tanken oder gar im Baumarkt begegnen. Weil wir glauben, einem Traummann wie ihm niemals zu genügen. Er...