ZWEIUNDZWANZIG

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„Hey. Habe ich dich geweckt? Tut mir leid."
Verlegen sah meine Besucherin zu mir auf und ich versank in ihren dunkel geschminkten Augen, die mich völlig in Bann zogen. Eine Antwort blieb ich ihr schuldig, denn ich probierte noch immer, die elegante Erscheinung vor mir mit dem Mädchen in Einklang zu bringen, das ich seit Jahren kannte. Hatte ich mich vor ein paar Tagen noch gewundert, warum Anna, wenn sie ausging, nicht ein bisschen mehr aus sich machte, verfluchte ich sie in genau diesem Augenblick dafür. Anna sieht geradezu gefährlich anziehend aus. Sie allzu genau abzuchecken erübrigte sich. Ich phantasierte in der letzten Zeit oft genug von ihr. Jede ihrer hübschen Kurven war mir mindestens so vertraut, genau wie ihre Gesichtszüge. Ohne jeden Zweifel wusste ich, wie samtweich und warm die Haut ihrer Schenkel war, die unter dem silbrig-grau schimmernden Rock hervorschauten, der in ein enganliegendes Mieder überging. Der tiefe Ausschnitt ihres Kleides schmeichelte ihren üppigen Brüsten ohne ordinär zu wirken.

Immerhin durfte ich ihre Schenkel schon berühren. Ein Gefühl, das meine Fingerspitzen noch nicht vergessen hatten. Über den Rest konnte ich nur spekulieren, aber ich war mir sicher, das jedem Millimeter ihres Körpers gehuldigt werden sollte.
„Ich wollte nur kurz nach dir sehen, bevor ich gehe."
Gehe? Wo zur Hölle wollte sie denn in diesem Outfit hin? Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Heute war ihr Date mit dem Vollpfosten, der ihr falsche Pimmelbilder geschickt hatte. Sicher ginge sie Essen und dann ins Kino. Ich musterte Anna etwas genauer. Kein Kino; eher Theater. Oder Oper oder etwas anderes Gediegenes. Und danach würde dieser Trottel Anna aus diesem Kleid und dem Jäckchen schälen und ... Stopp, Carter! Das war ein erstes Date und Anna ein anständiges Mädchen. Sie machte auf keinen Fall schmuddelige Dinge mit einem völlig Fremden. Mein Körper signalisierte sehr eindrücklich, dass jeder weitere Gedanke in dieser Richtung sich von selbst verbietet, so lange ich in locker geschnittenen Hosen vor ihr stand, die nicht verbargen, wie sehr mich der Gedanke, sie langsam aus ihrer Kleidung zu schälen, anmachte. Bilder, wie ich das alberne Jäckchen von ihren Schultern schob, wurden von der Vorstellung abgelöst, langsam den Reißverschluss zu öffnen, der sich irgendwo an diesem Kleid befinden musste. In meiner Phantasie glitt es leise raschelnd zu Boden und Anna, gekleidet in seidige Unterwäsche, stieg aus dem Kleid heraus, während ihre Arme sich um meinen Hals legten.

„Ist alles okay bei dir? Ich kann meine Verabredung auch absagen, wenn es dir nicht gut geht." Besorgt runzelte Anna ihre Stirn. Sie war vollkommen ahnungslos, wie verdammt attraktiv sie war. Langsam erwachte ich aus meiner Starre.
„Ja, klar", brachte ich hervor, was total missverständlich war.
Mann, Carter, echt jetzt. Reiß dich zusammen!
„Also ich meine, nein?"
Ihre zartrosa betonten Lippen hoben sich zu einem bezaubernden Lächeln, das mir völlig den Boden unter den Füßen wegriss.
Sammeln. Haltung waren.
„Mir geht es gut, will ich sagen. Ich komme heute Abend klar."
Sie nickte und einige ihrer rebellischen Locken, die sich nicht in ihrer Hochsteckfrisur bändigen ließen, umschmeichelten dabei ihr Gesicht. Mit ihren zartgliedrigen Fingern tat Anna genau das, was ich am liebsten tun wollte: Sie steckte die losen Strähnen hinter die Ohren. Dabei funkelten ihre feuerrot lackierten Nägel in der tiefstehenden Sonne. Feuerrot wie die Striemen, die sie auf meinem Rücken hinterlassen würden, wenn ich sie verwöhnte.
„Grandma schaut später noch bei dir vorbei", kündigte Anna mir an. Die Erwähnung der resoluten älteren Dame bremste meine Visionen von einer Anna. „Sie macht dir nur schnell Suppe heiß."
Verlegenes Schweigen machte sich zwischen uns breit. Mich beschlich das Gefühl, Anna wartete auf irgendwas. Ihr Lächeln verblasste langsam und endlich kapierte ich.
Aber was sagte man zu einem Mädchen, das auf ein Date mit einem anderen ging?
Dass sie gut aussah und ich ihr einen schönen Abend wünschte? Den gönnte ich ihr, aber ihm nicht. Oder dass sie scharf aussah, ich ihr gerne eine meiner Tütensuppen servierte würde, bevor ich ihr selbst an die Wäsche ging?
Stopp!
„Du siehst hübsch aus. Deine Haare sind irgendwie anders und das Kleid steht dir." Was zur Hölle redete ich da? Ich stellte mich dämlicher an als unser Klemmi im Stripclub.
Annas Wangen röteten sich ein wenig. Erwartungsvoll blickte sie weiter zu mir auf. Was noch? Fieberhaft überlegte ich, was ich sagen könnte, das unverfänglich war.
„Viel Spaß."
Das Lächeln erlosch schlagartig.
„Danke", murmelte sie. „Schönen Abend auch."
Sie klemmte eine winzige schwarze Handtasche unter ihren Arm und ging. Die hochhackigen Schuhe setzten ihre langen Beine in Szene und ihre Hüften schwangen verführerisch. Mein Blick klebte förmlich an ihrem Hintern. In dem Bemühen, einen Rest von Respekt ihr gegenüber zu zeigen, klappte ich die Tür zu und sperrte ihre Erscheinung aus.
Mattes Dämmerlicht umfing mich und plötzlich war sonnenklar, was ich zu ihr hätte sagen sollen:
„Bitte bleib hier. Bei mir."
Hart schlug ich mit meinem Hinterkopf gegen die Tür. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Wie verflucht dämlich war ich eigentlich, Anna einfach gehen zu lassen?
Dass Anna auf ein Date ging und ich allein im Dunkeln saß, beschleunigte meine Genesung dramatisch. Nicht, dass ich mich wesentlich besser fühlte als vor meinem Nickerchen. Doch allein die Vorstellung mit dem Fernseher als einzige Gesellschaft den Abend zu fristen, war abschreckend genug, damit ich mich nicht krankmeldete.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt