SECHSUNDVIERZIG

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Für Keith hielt ich entgegen aller sonst geltenden Regeln direkt vor der Tür der Überseecontainer an, die seine Eltern ausgebaut hatten. Auch Elaine lieferte ich direkt vor Dads Trailer ab, obwohl Derrick strikt verboten hatte, die Kieswege ohne Genehmigung durch den Platzwart mit Fahrzeugen zu befahren.

Anna langte zum Türgriff als Elaine ausstieg, doch wie zuvor bei den zwei fiesen Arschlöchern legte ich meinen Arm um Annas Hals, viel zärtlicher natürlich, und dirigierte sie mit dem Oberkörper in meine Richtung. Hinter den Regenschlieren, die die Scheiben hinunterflossen, waren wir abgeschirmt von der Außenwelt, als würden wir hinter einem Wasserfall kauern. Das Tosen der Wellen, die gegen den Strand donnerten, boten den beinahe perfekten Soundtrack zu dieser Illusion der Einsamkeit.

„Mit dir war ich eigentlich noch nicht fertig, Anna", raunte ich ihr zu und zupfte mit den Zähnen an ihrem Ohrläppchen. Annas Lider senkten sich genussvoll. Weil ich ihr vorsichtig ins Ohr pustete, öffnete sie ihre Augen empört wieder. Doch beinahe im selben Moment, in dem sich unsere Blicke begegneten, wurde ihrer weicher und spiegelte die selbe Sehnsucht wider, die auch ich fühlte.

„Dann komm doch noch auf eine Tasse Tee mit rein", sprach Anna eine ebenso schüchterne wie überraschende Einladung aus. Doch noch mehr als von der Einladung an sich war ich von dem lockenden Unterton, der diese begleitete, überrumpelt. Anna sprach offensichtlich von ganz anderen heißen Sachen als von einer simplen Tasse Tee.

„Wenn du das wirklich willst?", bot ich ihr eine Möglichkeit, ihr sehr eindeutiges Angebot zu überdenken und einen Rückzieher zu machen. Ein Hauch Unsicherheit zuckte über ihr Gesicht und ihr Kehlkopf hüpfte zweimal auf und ab. Deutlich sichtbar schluckte Anna die Angst vor ihrem eigenen Mut hinunter, befeuchtete kurz ihre Lippen. Sie plante etwas, das sie verdammt nervös machte und mich plötzlich auch. War eine Tasse Tee das gleiche eindeutige Angebot wie eine Tasse Kaffee?

„Ja, will ich." Sie guckte mich in etwa so entschlossen an wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde.

Hin und hergerissen zwischen meinen Möglichkeiten streichelte ich sanft über ihren Unterarm, den Ellbogen. Wenn ich ablehnte, brachte ich mein mutiges Mädchen damit sicher in Verlegenheit. Sachte hauchte ich einen Kuss auf ihren Wangenknochen, spielte auf Zeit und atmete den Duft ihres Shampoos ein. Scheiße, ich wollte überhaupt nicht ablehnen! Ich wollte in ihrem Duft baden, ihren Körper unter meinem spüren, meine nackte Haut an ihrer reiben.

Aber wenn ich mit reinging..., verletzte ich sie womöglich.

Anna drehte den Kopf ein wenig zur Seite und verteilte winzige Küsse auf meinem noch immer lila angehauchten Kiefer, dann an meinem Hals. Mein Widerstand bröckelte mit jeder Berührung. Mit der Hand liebkoste sie die andere Seite meines Halses. Ihr vorsichtiger Versuch, mich zu verführen, mir zu zeigen, was sie von mir wollte, mit mir wollte, trieb meinen Puls in die Höhe und machte mich mehr an, als wenn sie den obersten Knopf meiner Hose geöffnet hätte und sich über mich gebeugt.

Annas Hände suchten sich ihren Weg über meine nackten Brustmuskeln. Ihre kurzen Fingernägel kratzten verführerisch über meine Haut. Scharf atmete ich ein, als sie weiter über meine Bauchmuskeln fuhr. Tiefer. Immer tiefer. Ihre Fingerkuppen lagen noch auf meiner Haut. Ihre Handballen jedoch berührten fast... fast...

Fuck. So verflucht knapp.

Mühsam unterdrückte ich ein frustriertes Stöhnen, weil ihre Hände wieder nach oben wanderten, Muskelpaket für Muskelpaket. Dass mein Atem sich beschleunigte, konnte ich nicht mehr verbergen.

„Tee klingt gut, Prinzessin." Dass Annas Lippen diese verdammt erotische Stelle neben meinem Adamsapfel berührten und dort an meiner empfindlichen Haut saugten, trug einen Großteil zu dieser Entscheidung bei.

Die Inneneinrichtung des Trailers war mir so vertraut wie sie zweckmäßig war. Nüchterne weiße Türen mit schwarzen Eisengriffen bildeten die Küchenfront, die Arbeitsplatte, die das Spülbecken mit dem schmalen Abtropfbrett umschloss, war in rustikaler Butcherblock-Optik gehalten. Der feine Geruch nach Fichtenharz haftete auch nach Jahren noch an den Latten der Empore, die Annas winziges Reich bildeten. Ein ausgedientes Fischernetz diente seit jeher als Fallschutz und die Knotenpunkte waren mit allerlei Strandgut verziert, das Anna im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Muscheln, Steine, Knöpfe , Münzen, eine gelbe Gummiente, eine leere Flasche mit asiatischen Schriftzeichen, alles hatte Anna mit Draht oder Heißkleber dort oben befestigt.

Anna führte mich zielstrebig am Gasherd vorbei. Ihre Finger umschlossen nachdrücklich meine Hand. Ich hatte gedacht, sie würde wenigstens pro forma Wasser heiß machen, doch sie zerrte mich direkt zur Treppe, die zur Empore hinaufführte. Diese war gerade breit genug, dass man zwei Füße nebeneinander setzen konnte. Etwas schien Anna zur Eile anzutreiben. Überrumpelt von dem Tempo das Anna vorlegte, folgte ich ihr. Unsere Schritte klangen laut und hohl wegen der in den Stufen verbauten Schubladen.

Oben angekommen schaltete Anna eine Lichterkette an, die ihre vielen verspielten in verschiedenen Weißtönen gehaltenen Kissen und die Matratze, die direkt auf dem Boden lag und beinahe die gesamte Breite der Galerie einnahm, in ein warmes, gelbliches Licht tauchte. Die Wand am Kopfende war wie es sich für ein anständiges Betthaupt gehörte, bis zur halben Höhe gepolstert und ein ebenfalls gepolsterter Holzrahmen verhinderte, dass die Matratze verrutschte. Die mit naturweißem Leinen bezogene Bettwäsche verwandelte ihr Bett in ein wattiges Schlafwölkchen, das so sehr nach Boho aussah, dass es in einem Katalog präsentiert werden konnte.

Unsicher schaute Anna mich an. Nach dem Lauf durch den Regen war zwischen uns die Luft ein bisschen raus, Annas Schüchternheit kehrte mit Macht zurück und ich wollte sie auf keinen Fall bedrängen. Trotzdem lag eine wissende Vorahnung in der Luft und knisterte zwischen uns wie eine Hochspannungsleitung. Wir wussten beide, was heute passieren würde. Dass es passieren wird. Die Frage war nur noch das Wie.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt