SECHSUNDZWANZIG

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Mit zusammengebissenen Zähnen verfolgte ich den Weg meiner drei Freunde.

Zwei Freunde.

Huxley war die längste Zeit mein Kumpel gewesen, das war bereits in Stein gemeißelt, seit Anna auf ihren mörderischen High-Heels den Raum betreten hatte. Gemeinsam marschierten die drei zur Bar, wo Huxley den beiden Mädchen einen Drink mixen ließ und sich dann lässig umwendete. Sein Blick suchte den Saal ab, streifte mich kurz und grüßend hob er die Hand. Noch ahnte er nicht, was ihn erwartete, wenn ich Feierabend hatte. Kurz darauf flatterte sein Blick weiter. Er war ohne Zweifel auf der Suche nach Jordan. Anna und Lou-Ella mischten sich derweil bereits mit ihren Cocktails unter das Party-Völkchen. Die Cocktails trugen sie stolz vor sich her, als wäre es ihre Kriegsbeute und die dekorativen Orangenscheiben ihre Goldtaler.
Ich fragte mich ernsthaft, womit Huxley Anna geködert hatte, damit sie heute mit ihm ausging. Sie hatte doch gesagt, sie sei an Hux nicht interessiert! Für jeden sichtbar hatte sie sich mit ihrem Outfit heute Nacht selbst übertroffen. Sie trug ein figurbetontes Kleid in hellblau, das eine Handbreit über ihrem Knie endete und im Gegensatz zu anderen gewagten Kreationen im Raum durch Träger an Ort und Stelle gehalten wurde. Ihre wilde Mähne hatte sie hochgesteckt. Nein, korrigierte ich mich selbst. Vermutlich hat Lou ihr zu der raffinierten Frisur verholfen. Ihre Schwester war Friseurin. Oder Hairstylistin. Sowas in der Art.
Anna machte ebenso wie Huxley den Eindruck, jemanden zu suchen. Ihre Augen huschten umher und wieder einmal grummelte es unruhig in meinem Magen, ein fieses Stechen nistete sich in meiner Brust ein. Wer sagte, dass Mr. Pimmel der Einzige war, mit dem sie ein Date vereinbart hatte? Vielleicht wollte sie heute Abend jemanden treffen? Und wer sagte eigentlich, dass ich ihre Anwesenheit kommentarlos hinnehmen musste? Mit einem Ruck löste ich mich aus meiner Ecke und steuerte auf Anna zu. Je näher ich kam, desto klarer wurde, dass Anna definitiv Hilfe beim Styling hatte. Sie war gestern bereits hübsch geschminkt. Heute sah  sie geradezu professionell aus. Mit Smokey Eyes und Blush auf den Wangen, einem Lippenstift, der perfekt zu ihrem Teint passte und Nagellack in derselben Farbe des Lippenstiftes. Wer auch immer ihr geholfen hate, musste auch Spachtelmasse aufgetragen haben, um ihre Narbe vollständig zu überdecken. Noch immer schweifte Annas Blick unruhig, dann begegnet er meinem und ihre Augen weiten sich ein kleinwenig.
„Hey“, begrüßte ich sie kühl. „Das ist geschlossene Gesellschaft. Stehst du auf der Gästeliste?“, fragte ich dann noch ein paar  Grad kälter nach.
Erstaunt guckte sie mich an.
„Ja, also, Carter. Ich weiß nicht“, stotterte sie. „Aber ich denke schon. Huxley hat mich eingeladen.“
In bester Türstehermanier hob ich eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor meiner Brust.
„Dann prüfen wir das doch mal kurz nach. Wenn du bitte mitkommst?“
Keine Ahnung, warum ich mich gerade so arschig benahm. Ich wollte einfach nur, dass Anna verschwand. Von hier. Aus Jordans Dunstkreis. Am besten gleich aus Florida. Nur hab ich keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.
„Was soll das, Carter?“, zischte Anna hinter mir. „Ich dachte wir sind Freunde? Wieso bist du jetzt so?“
Ich blies die Backen auf. Was sollte ich ihr sagen? Wie sollte ich ihr klarmachen, dass Jordan ihren Hintern in einem String-Tanga auf seiner Bühne verschachern wollte?
„Sagen wir es mal so: D solltest einfach nicht hier sein, Anna.“
„Dean?“ Wir hatten in diesem Augenblick den Eingang erreicht, wo der Chef des Sicherheitsteams seinen Posten bezogen hatte. „Schau mal bitte, ob eine Anna Sullivan auf deiner Liste steht.“
Zu meinem Leidwesen nickte Dean nur Sekunden später. Auf diesem Wege kamen wir also nicht weiter.

„Das hier ist kein Ort für anständige Mädchen, okay?“, informierte ich sie leise. „All diese Leute sind aus einem ganz bestimmten Grund hier. Und glaub mir, das ist nichts, das du tun willst.“
Anna Brauen zogen sich zusammen. „Was meinst du?“
Ich zerrte Anna außer Hörweite von Dean, hinaus vor die Tür, wo vom Gang die Zimmer abzweigten. An den meisten leuchtete bereits eine rote Lampe am Kartenleser und wie das Zimmer als belegt aus.
Mit einem schnellen Blick über die Schulter bugsierte ich Anna in Richtung der einzigen zwei noch unbelegten Räume, zog meine Karte durch den Leser und stieß die Tür auf. Annas Augen weiteten sich erstaunt, als sie das spielwiesengroße Bett erfasste. Den Spiegel darüber, das Spielzeug, das in einem Körbchen auf dem Nachttisch stand. Sie schlug ihre Hand vor den Mund.
„Ach du meine Güte! Davon hat Hux kein Wort gesagt!“ Plötzlich kicherte sie. Mein Blick fiel auf ihren Cocktail. Den ersten. Wenn Anna kicherte, dann musste da noch mehr im Spiel sein. Entweder hatte sie vorgeglüht, oder der Barkeeper hatte ein zielführendes Mischungsverhältnis, das Mädchen ruckzuck besoffen machte. Zur Klärung schnüffelte ich an dem fruchtigen Gemisch, konnte aber nicht mal feststellen, was für ein Drink das hätte werden sollen. Er roch einfach nur scharf nach Alkohol... „Orgasmus?“ riet ich und wieder kicherte Anna, während sie den Kopf schüttelte. „Das hättest du wohl gerne!“ Sie schmunzelte und ich kam nicht umhin, Anna deswegen ein wenig aufzuziehen.
„Du etwa nicht?“
Inzwischen war sie in das Zimmer geschlendert und sah sich neugierig die Einrichtung an. Die dunklen Lederriemen am Kopfende scheinen sie besonders zu interessieren. Auf meine Frage hin drehte sie sich jedoch zu mir um. Ratlos hob sie die Schultern und sieht mich mit schräggelegtem Kopf an.
„Keine Ahnung. Ich noch nie das Vergnügen. Immer nur Sex on the Beach.“
Die Antwort ließ mich mit vielen Fragen zurück. Zum Beispiel mit der, ob wir gerade wirklich noch über Cocktails redeten und warum die Luft zwischen uns plötzlich zum Schneiden dick war und elektrische Funken über meine Haut krochen, die mein Herz aus dem Takt brachten. Und mit welchen Versagern war Anna in der Vergangenheit  ins Bett gegangen, damit das überhaupt möglich war.
„Wenn du möchtest, können wir dir beim Barkeeper einen Orgasmus besorgen“, stieg ich auf Annas leichten Ton ein.
„Danke, Carter, aber der Barkeeper kann seinen Orgasmus gerne für sich behalten. Hab kein Interesse.“
Annas Augen schimmerten mutwillig im Schein von hunderten winzigen Lämpchen, die in der abgehängten Decke eingelassen waren. Sie griff nach ihrem Cocktail. Doch statt ihn mir aus der Hand zu nehmen, hielt sie ihn einfach nur fest und senkte dann ganz langsam den Kopf. Ihr Blick versank tief in meinem, während sie mit den Lippen den Strohhalm umschloss.
Sie versucht mich anzumachen.
Kristallklar stand mir diese Erkenntnis vor Augen. Und es funktionierte. Anna machte mich verdammt nervös, wenn sie plötzlich mit mir flirtete. Das musste sofort aufhören!
„Also noch mal, Anna! Was machst du hier? Das sieht dir alles überhaupt nicht ähnlich. Vor ein paar Tagen hast du noch behauptet, du hättest dazugelernt. Und jetzt läufst du angetrunken ohne Begleitung auf einer von Jordans Partys rum.“ Konnte sein, dass ich gegen Ende meiner Vorwürfe etwas laut geworden war, weil ich mich inzwischen nicht nur über Hux ärgerte, sondern noch viel mehr über Anna. „Du kennst Jordan. Du weißt, dass er nicht grade ist. Sich mit ihm einzulassen bringt nur Ärger.“
Langsam, ganz langsam hob Anna ihre dunkel nachgezogenen Augenbrauen. Ihr Lächeln war inzwischen völlig verblasst und ihr Mund eine schmale Linie. Sie wirkte äußerst verärgert.
„Weißt du, wo die Schwachstelle in deiner Argumentation ist? Du bist selber hier, obwohl du dich aus Ärger raushalten solltest!“
„Der feine Unterschied ist, dass ich nicht hier bin, um zu feiern und zu trinken, sondern weil ich dringend Geld brauche.“
Und um dich von diesen Dingen fernzuhalten.
„Nur hab ich gerade nicht so viele Möglichkeiten. Was kann ich denn ohne Studium und ohne Ausbildung? Ich hab keinen High School Abschluss. Nicht mal ein Praktikum kann ich vorweisen. Ich bin ein Nichts und ein Niemand. Im Gegensatz zu dir habe ich nichts zu verlieren. Nichts! Verstehst du? Aber du schon! Geh nach Hause, Anna, wenn du weißt, was gut für dich ist. Aber vermutlich hast du dir nicht mal darüber Gedanken gemacht, wie du zurückkommst nach Hause, oder?“
Resigniert wischte ich mir über das Gesicht. Wie konnte ein Mädchen so klug sein und sich gleichzeitig immer wieder in irgendwelchen Blödsinn hineinmanövrieren.
„Hux hat gesagt, du wärst auch hier. Ich dachte, wir können nach deiner Schicht gemeinsam fahren.“
Obwohl ich sie liebend gern nach Hause fahren würde, musste ich über ihre Naivität die Augen verdrehen.
„Schon mal drüber nachgedacht, dass ich andere Pläne haben könnte? Vielleicht wollte ich nach der Arbeit gerne noch eines dieser Zimmer nutzen?“
Aus großen Augen sah Anna mich an. Tränen sammelten sich darin. Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Bevor ich kapierte, was für einen Blödsinn ich ihr gerade auf den Kopf zu gesagt hatte und welche verheerende Wirkung es hatte, wischte sie an mir vorbei und hinaus in den Flur. Ich hatte sie verletzt, obwohl ich sie beschützen wollte. Alles woran ich jetzt noch denken konnte, war die lange Treppe. Ihre verschwommene Sicht wegen der Tränen. Die mörderischen Schuhe. Achtlos stellte ich den Cocktail zur Seite und folgte Anna. Dabei redete ich mir ein, dass kein Mensch der Welt so viel Pech haben konnte, drei Mal eine Treppe runterzustürzen. Langsam folgte ich ihr, um sie nicht noch zusätzlich zu hetzen.
Obwohl ich von Statistik und Wahrscheinlichkeiten wenig Ahnung hatte, lag ich mit meiner Einschätzung richtig. Anna schaffte es, unbeschadet über die Stufen und hat sich auch einen ziemlichen Vorsprung erarbeitet. Dass sie auf hochhackigen Schuhen so schnell war, musste mit ihrem Tanzunterricht zusammenhängen. Sie war es einfach gewöhnt, nur auf Zehenspitzen durch die Gegend zu balancieren. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Doch nun irrte sie ziellos durch das Erdgeschoss auf der Suche nach einem Ausgang, der um diese Zeit noch nicht versperrt war.
„Anna!“ Mein Ruf, mit dem ich sie zum Stehenbleiben bringen wollte, hallte im Gang wider und verzerrte meine Stimme. Kurz stoppten ihre Schritte, dann setzte das Klacken ihrer Absätze wieder ein. Sie bewegte sich jetzt weg von den Garderoben in Richtung Club-Halle, wo das Reinigungspersonal die Pfützen von Alkohol, Schweiß und anderen Körperflüssigkeiten beseitigte in denen am Ende einer langen Clubmacht Zigarettenstummel, gebrauchte Kondome, Münzen, vereinzelte Scheine und andere Überbleibsel der Nacht schwammen. Bei grellem Licht betrachtet hinterließen die Partygänger Nacht für Nacht einen unglaublichen Dreck. Ohne sich um ihre Schuhe zu scheren, eilte Anna durch den mehrere Meter hohen Raum und rüttelte an einer der Türen. Erfolglos. Als sie sich umdrehte und zur nächsten eilen wollte, stand ich bereits direkt hinter ihr.
Und als sie sich umdreht, sah sich nicht wie erwartet wütend aus, sondern tieftraurig. Ihre Wimperntusche hat dunkle Schlieren um ihre vom Weinen geröteten Augen hinterlassen. Ein paar Strähnen haben sich aus ihrer Frisur gelöst und lockten sich um ihre Wangen.
Sie sah noch nie schöner aus, als heute Abend. Und ich bin ein so ein verdammter Idiot!
„Tut mir leid, dass ich so ekelhaft zu dir war. Ich möchte einfach nur nicht, dass du wieder verletzt wirst, weil du dich Hals über Kopf in etwas hineinstürzt, das Konsequenzen hat, die du im Moment nicht überblickst. Das verstehst du doch, oder?“
Sie senkte ihre Augen und starrte zu Boden. Wie so oft in den letzten Tagen zuckte sie statt einer Antwort mit den Schultern. Verschwunden war das Mädchen, das mich mit Anzüglichkeiten aus komplett aus der Fassung brachte und machte einer Anna Platz, die mich plötzlich nicht mehr Anteil haben ließ an ihren Gedanken und Gefühlen. Weil ich selbst nicht wusste, was ich sonst sagen oder tun sollte, zog ich den Schlüssel ihres Autos aus der Hosentasche und hielt ihr diesen hin.
„Fahr nach Hause, Anna. Jetzt gleich. Glaub mir, es ist besser so. Ich will dich hier nicht haben.“
Vermutlich war auch diese Aufforderung nicht sonderlich geschickt formuliert. Nur…
„Anna, bitte. Ich muss nach oben. Arbeiten. Können wir reden, wenn ich nach Hause komme? Bitte? Ich hab grad echt keinen Kopf für sowas.“
Zögerlich nickte sie. „Okay.“
Vorsichtig strich ich ihr ein paar Strähnchen hinter das Ohr. „Fahr vorsichtig, Prinzessin, du hast getrunken.“
Aus großen Augen sah sie mich an. „Und wie kommst du nach Hause?“
Vielleicht verprügelte ich Hux und klaute dann sein Auto. Stattdessen sagte ich: „Ich überleg mir was. Mach dir keine Sorgen.“

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt