DREIUNDDREISSIG

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An Schlaf war nicht zu denken… Besuch im Krankenhaus… Sorge um Elaine… Strandausflug mit Anna… und wieder von vorne. Ich war gefangen zwischen vergifteten Emotionen. Drehte mich wieder und wieder im Kreis, als versuchte ich meinen eigenen Schwanz zu fangen. Am Ende blieb das zentrale Thema: Lainy hätte bei ihrem Ausflug sterben können. Sie war mit blauen Flecken und einem Schrecken davongekommen. Wir alle waren mit dem Schrecken davongekommen. Und meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass so etwas verdammt noch mal nicht nochmal passierte! Wir mussten hier weg. Zurück nach Oregon. Zurück zu einem geregelten Alltag. Zurück zu einem Tagesablauf, der verhinderte, dass Elaine auf solche Ideen kam. Weg von Menschen, die sich nichts dabei dachten, ihre Kinder ohne Führerschein Auto fahren zu lassen. Weg von kleinkriminellen Teenagern, die sich nichts dabei dachten, ein Auto kurzzuschließen und gemeinsam mit fünf Freunden über nächtliche Landstraßen zu kurven.
Bereits zum zweiten Mal an diesem frühen Morgen musste ich pinkeln, weil mein Geist und mein Körper nicht zur Ruhe kamen. Ich war zum Sterben müde, gleichzeitig fürchtete ich den Schlaf und  meine Träume mehr als je zuvor. Nähe barg immer ein Risiko. Das Risiko, dass jemand rausfinden würde, was ich getan hatte.
Graues Dämmerlicht fiel bereits durch die Metalllamellen der Jalousien. Annas helle Haut und dunkle Schatten wechselten sich auf ihrem Gesicht und ihrem Hals ab. Das Zwielicht verwandelte Annas Gesicht in einen atmenden Zebrastreifen und gab ihrem Anblick etwas Unwirkliches. Um sie nicht zu stören, lag ich ganz still, ignorierte meine drückende Blase und drehte nur den Kopf in ihre Richtung, um sie besser betrachten zu können. Ihr Kopf ruhte entspannt auf meinem alten klumpigen Kissen. Ihr Haar war eine einzige Explosion. Die zerschlissene Wolldecke hatte sie zur Seite gestrampelt, sodass sie nur noch locker um ihre Hüften lag und man mein ausgewaschenes Nike-Shirt, das Elaine irgendwo in Dads Trailer ausgegraben hatte, in seiner ganzen ehemals schwarzen Pracht sah. Bei mir spannte es an den Oberarmen, in den Achselhöhlen und knirschte bei jeder Bewegung protestierend, als könne es nur mit äußerster Mühe, die Form wahren. An Annas schlankem Körper fiel es in entspannten Falten. An der Schulternaht war ein kleines Loch. Würde ihre helle Haut an dieser Stelle nicht durchschimmern, wäre es mir womöglich weiterhin gar nicht aufgefallen.
Asozial.
Das war das Wort, das die Umgebung am besten beschrieb. Der Trailer war alt und schmutzig, wie alles, was sich darin befand. Und es war mir egal gewesen. Bis heute. Es war, als hätte sich letzte Nacht die Austernschale geöffnet, in der ich lag und nun fiel Licht auf die scharfen Kanten der Realität und beleuchtete die einzige wahre Perle in meinem Leben: Anna.
Es brauchte ein wenig Dreck, damit etwas entstehen konnte, das so perfekt war wie sie. Sie hat ihre Schrammen, Gebrauchsspuren, die das Leben hinterlassen hatte. Aber sie war ein wahres Kleinod und gehörte nicht in eine dreckige Schmuckschatulle, sondern in eine Vitrine, wo jeder sie betrachten konnte. Nicht ihren Körper, wie Jordan es plante. Nicht reduziert auf ihre äußerste Schicht. Jeder müsste sehen, wie sie Schicht um Schicht gewachsen war, bis sie der Mensch geworden war, der sie heute war.
Eine kribbelige Energie erfüllte mich plötzlich. Mein berauschtes Hirn, erst high von Weed, dann trunken von Annas Küssen, fand keine Ruhe. Ich musste etwas tun, meine eigene Dreckkruste abstreifen, damit mein wahrer Wert zum Vorschein kam, wo immer dieser liegen mochte. Aber dafür brauchte ich Kraft.
Leise stemmte ich mich hoch und schlich auf Zehenspitzen in das winzige Bad am Heck. Mit einem unguten Gefühl, als würde ich Anna betrügen, drückte ich eine der Tabletten auf meine Handfläche. Dabei knackste der Blister. In meinen Ohren glich das Geräusch einem Gewehrschuss. Trocken würgte ich die Tablette runter, um Anna nicht doch noch zu stören.
Dann legte ich mich wieder neben sie. Leise seufzte sie im Schlaf. Der Zebrastreifen wanderte über Annas Wangen während sie nach einer angenehmen Schlafposition suchte. Diese war ausgerechnet an meiner Schulter, an der nun ihre Stirn klebte. So viel dazu, dass ich nicht der kuschlige Typ war. Noch ein letzter tiefer Schnaufer, dann streichelte ihr regelmäßiger Atem über meinen Trizeps. Im ersten Moment nervte mich der Zustand ungemein. Dann sagte ich mir eindringlich, dass das zum Gesamtpaket dazugehörte. Paare schliefen nicht nur miteinander, sondern auch zusammen. Ich musste lernen, damit klarzukommen. Irgendwie.
Ergeben schloss ich die Augen, fügte mich in das Unvermeidliche und konzentrierte mich auf meine eigenen Atemzüge, statt auf die von Anna. Das klappte aber nur bedingt. Immer wieder wanderte meine Aufmerksamkeit zu ihr. Zu den niedlichen, leisen Geräuschen, die sie im Schlaf machte. Zu dem leichten Kribbeln auf meinem Arm, das keine Berührung war, aber eine Erinnerung daran, dass ich in meiner Austernschale nicht mehr allein war. Immer wieder flammte kurz Angst auf, was meine Träume Anna verraten könnten. Mischte sich mit der Angst, dass sie es nicht akzeptieren konnte und mich früher oder später hasste. Dass sie sich abwendete und ich dann nicht nur eine langjährige Nachbarin und Freundin verlor, sondern auch der kleinen strahlenden Perle neben mir eine weitere sehr schmerzliche Kerbe verpasste.
Doch das musste gar nicht geschehen, wenn ich gut aufpasste, wenn sie in der Nähe war. Diese Erkenntnis beruhigte mich ungemein. Hüllte mich ein wie dunkler, weicher Samt und endlich glitt ich in den Schlaf.

Als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, in der Wüste gestrandet zu sein. Meine Zunge klebte am Gaumen. Schweiß sammelte sich an allen Stellen, wo Haut auf Haut traf. Die Luft stand wie eine Dampfglocke um mich herum und eine Sonne, die ihren Zenit weit überschritten hatte, blendete mich.
Maßnahme eins: weg mit der Decke und dem nassen Achselshirt.
Stöhnend rollte ich mich auf die Seite. Anna war nicht die ganze Nacht geblieben. Enttäuschung wallte in mir auf. Doch ein Blick auf die Uhr relativierte das Gefühl,  wenn gleich es durch die Erkenntnis, dass bereits später Nachmittag war, nicht ganz vertrieben wurde.
Diese Tablette hat mich nach dem anstrengenden gestrigen Tag mal wieder komplett ausgeknockt. Noch immer etwas neben der Kappe scrollte ich durch die Anrufliste und war schlagartig hellwach.
Elaine. Drei Mal.
Dad. Zwei Anrufe.
Javier. Ein Mal
Huxley. Vier Mal.
Cal. Zwei Mal.
Freunde zu haben, war eine tolle Sache. Echt. Aber nicht, wenn man gerade aufwachte und priorisieren sollte, was wichtig war und was nicht.
Vermutlich war Dads Anruf der Wichtigste. Weil er nie anrief und ich von ihm nicht angerufen werden wollte.
Außerdem ergab es keinen Sinn anzurufen, wenn man nur ein paar Schritte entfernt wohnte und einfach anklopfen konnte. Es sei denn er war zum besagten Zeitpunkt, knapp nach Mittag, bei Elaine im Krankenhaus.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt