SECHSUNDFÜNFZIG

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Mit den Händen stütze ich mich auf den Armlehnen hoch und schob den Stuhl nach hinten. Kurz nach halb zwei. Zeit, meiner Familie einen überraschenden Besuch abzustatten.

Dad hockte im Schatten und hielt Schleifpapier in der Hand, mit dem er hektisch über ein Holzbrett rubbelte. Elaine saß daneben, ein Buch in den Händen und las.

Als sie mich kommen hörte, blickte Elaine auf. „Oh, hey!", begrüßte sie mich. Dad brummte statt einer Begrüßung: „Kommst grad richtig. In der Küche steht noch Kaffee. Grad frisch durch."

„Welche Küche? Hast du angebaut?", erkundigte ich mich bissig. Nun hob auch er den Kopf.

„Kannst es wohl nicht lassen, was?", knurrte er. „Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, dann halt die Fresse. Für deine Sticheleien hab ich grad echt keinen Nerv, Michael."

Er senkte den Blick und werkelte weiter.

„Hat reingeregnet letzte Nacht. Und jetzt hat sich die Tür vom Bad verzogen und klemmt. Und das ausgerechnet, wo jeden Moment die Tante von der Jugendfürsorge kommt. Wär etwas peinlich, wenn die durchs Fenster aufs Klo muss", erklärte mir Elaine Dads Mörderlaune.

„Wenn sie clever ist, geht die hier sowieso nicht aufs Klo", gab ich zu bedenken.

„Unser Klo ist sauber! Wir putzen es jeden Tag!", entrüstete sich Elaine.

„Trotzdem ist und bleibt es ein Chemieklo", belehrte ich sie knapp.

„Was kann ich dafür, wenn Derrick keinen Kanalanschluss für die Parzellen will. Meinst bei so Wetter wie gestern will ich jedes mal zum Waschhaus latschen?", spielte Dad auf das abendliche Gewitter an. Er schüttelte ärgerlich eine Zigarette aus der Packung, klemmte sie sich in den Mundwinkel und zündete sie an.

„Bist du nur zum Stänkern hier oder gibt es was Wichtiges?" Beim Sprechen hüpfte die Kippe auf und ab wie eine Wippe auf dem Kinderspielplatz. „Ich hab hier zu tun, weißt du?"

Gleichmütig zuckte ich mit den Schultern.

„Wollte einfach mal nach dem Rechten sehen. Bisschen mit meiner Schwester quatschen. Hören, was es Neues gibt."

Ich ließ mich auf einen der freien Stühle fallen und fixierte Dad.

„Wieso weiß ich nichts davon, dass die Jugendfürsorge kommt?", fragte ich dann geradeheraus, obwohl Anna mich ins Bild gesetzt hat und auch Elaine sich keine Minute zuvor verplappert hatte.

Dad legte das Brett zur Seite.

„Weils dich einen Scheiß angeht. Du wohnst hier nicht und Elaine ist meine Tochter, nicht deine." Dads Ton war frostig wie die Antarktis. Inhaltlich deckte sich seine Aussage mit Annas Ansicht. Ich lehnte mich nach vorne und stützte meine Ellbogen auf die Knie ab.

„Sie ist vielleicht deine Tochter aber sie ist auch meine Schwester. Die letzten zwanzig Monate haben Mum und ich uns um sie gekümmert. Du hast weder Geld geschickt noch einen Finger krumm gemacht oder mal angerufen und gefragt, ob wir was brauchen. Wie es uns geht. Du warst nicht mal bei Mums Beerdigung."

„Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich gekommen", entgegnete Dad traurig.

„Wenn du gekonnt hättest? Das war ihr letzter Akt, Dad. Die letzte Gelegenheit zu zeigen, dass Mum dir etwas bedeutet hat", begehrte ich auf. „Aber du konntest nicht mal eine verdammte Karte schreiben."

„Ich war in der Entzugs-Klinik, Michael. Da geht man nicht einfach ein und aus wie man lustig ist. Eure Mum hätte das verstanden. Sie hätte gewollt, dass ich es endlich durchziehe!" Er sog heftig an seiner Zigarette.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt