FÜNF

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Dass ich wegen meiner ständigen Alpträume nicht gerne mit Menschen in einem Raum schlief, machte meine Reise nach Florida nicht unbedingt einfacher. Bei Dad drängte sich alles auf engstem Raum zusammen. Jemand würde in meiner Nähe schlafen.

Immer.

Schon der Gedanke machte mich so verrückt, dass meine Hände zitterten als ich an meinem Ziel meine kleine Reisetasche vom Gepäckband hob. Bevor ich durch das Gate ging und mich Elaine stellte, die dort auf mich wartete, musste ich mich erstmal ein bisschen sammeln. Schultern straffen. Körperspannung. Atmen.

Deutlich ruhiger als vor ein paar Minuten verließ ich den Sperrbereich hinter einer Gruppe von Asiaten in dunklen Anzügen, die mondäne Trolleys auf kleinen Rollen hinter sich herzogen. Meiner Größe erleichterte es mir, den gesamten Wartebereich zu überblicken und Elaine zu finden. Als sie mich fand, breitete sie die Arme aus und rannte auf mich zu.
„Carter! Hier sind wir!", brüllte sie und zog damit etliche Blicke auf uns. Manche waren durchaus wohlwollend, andere fanden ihre laute Begeisterung eher tadelnswert. Mir zauberte Elaine damit ein fettes Grinsen auf das Gesicht und auch Anna, die ihr mit ein wenig Abstand folgt, lächelte verhalten wegen Elaines Überschwang.

Als Elaine nur noch ein paar Schritte entfernt war, ließ ich die Sporttasche, die ich über der Schulter getragen hatte, fallen. Mein Herz quoll beinahe über vor lauter Liebe zu meiner kleinen Schwester. Ich hatte sie so vermisst! So mühelos als wäre sie das kleine fünfjährige Mädchen von früher, fing ich sie auf drückte ich sie fest an mich und wirbelte sie einmal herum bevor ich sie auf den Boden stellte und mich Anna zuwandte. Kurz umarmte ich auch sie, wie es sich gehört für jemanden, den man seit vielen Jahren kannte. Doch jede Nanosekunde, die ich sie im Arm hielt, war wie ein Nadelstich und tätowierte tiefschwarz die Sehnsucht nach einer verlässlichen Partnerin unter meine Haut. Die Sehnsucht nach jemandem, der meine Sorgen verstand wie keine zweite, mich unterstützte, wenn ich schwach war.
„Guten Flug gehabt?", erkundigte Anna sich und wendete sich bereits in Richtung Ausgang, ohne meinem Leiden auch nur ein Mindestmaß an Beachtung zu schenken. Ohne auch nur zu ahnen, wie sehr mir unser Wiedersehen unter die Haut ging.
Ich wollte nicht hier sein. Und gleichzeitig wollte ich es doch. Weil Elaine hier war.
Und Anna, spottet meine innere Stimme, während ich beobachtete, wie Annas wilde Locken bei jedem Schritt auf und ab wippten. Sie hasste dieses rote Gewirr auf ihrem Kopf mit einer Inbrunst, die ich nicht verstand. Irgendwann würde jemand kommen, der seine Hände in diesem Hexenhaar vergrub und sie mit Inbrunst der küsste, mit der sie ihre Locken verabscheute. Jemand wie Ian. Ein fieses Stechen zog durch meine Brust. Sie würden sich lieben, heiraten, Kinder bekommen und glücklich sein. In einem Haus mit Garten und einem weißen Zaun darum, der ihre Kinder beschützte vor all dem Bösen, das ich in dieser Welt bereits gesehen hatte. Der Zyniker in mir ersetzte Zaun durch Bunker. Ihr Mann würde sie anbeten. Sie jede Nacht lieben. Auf einer weichen Matratze im ersten Stock. Auf dem Küchentisch. Auf der Couch. Im Keller neben ihrem Bügelbrett. Ich würde die sahnige Haut an ihren Schenkeln küssen, die ich in jener Nacht gestreichelt hatte und...

„Und?", fragte Anna und blickte über ihre Schulter. Ich schluckte. Plötzlich war mein Mund staubtrocken. Was zur Hölle dachte ich hier? Was war nochmal die Frage? Bevor ich auf gedankliche Abwege geriet? Scheiße! Ach, so. Der Flug. Ich riss meinen Blick von Annas Mund los. Mein „und" hatte definitiv etwas mit ihren Lippen zu tun. Nicht mit denen die sie gerade zu einem Lächeln verzogen.
„War okay. Hinter mir saß bloß eine Göre und hat ständig gegen meinen Sitz getreten, aber was will man machen?", gab ich achselzuckend eine Belanglosigkeit von mir. Niemand erwartete, dass ich zugab, Stunden gebrütet und mein Schicksal verflucht zu haben, oder?
„Kann ich nochmal diesen Tee kaufen, oder willst du sofort fahren?",gebrüterach Elaine die eher bemühte Unterhaltung zwischen Anna und mir. Anna lächelte wieder verhalten. Ich hasste es, wie sie versuchte ihren Mund nicht zu sehr zu verziehen. Dabei war ihr durch die Narbe etwas schiefes Grinsen zuckersüß wie dieser asiatische Tee auf den Elaine stand wie Nachbars Hund auf Rinderhack.
„Nein mach nur. Ich hab den Parkplatz für eine Stunde bezahlt. Du hast also mehr als genug Zeit. Willst du ein Muffin dazu? Oder etwas anderes?"
Anna griff in die kleine hellbraunen Handtasche, die sie umgehängt hatte und hielt Elaine einen Geldschein hin.
„Elaine, bitte. Das muss aber nicht sein. Du hast selber Geld!", tadelte ich meine Schwester fast schon grob und verfolgte mit leichtem Argwohn den hilfesuchenden Blick, den sie Anna zuwarf.
„Elaine hatte Angst, dass sie das Geld verliert. Sie hat es mir gegeben, damit ich drauf aufpasse", berichtete Anna und sah bei dieser Erklärung Elaine hinterher, eigentlich überall hin, nur nicht zu mir. Da war was faul. Das konnte es riechen.
„Und wie lange hast du freibekommen?", wechselte Anna zackig das Thema und diesmal war es meine Lüge, die zum Himmel stank, als ich antwortete, dass ich bis Ende Januar Urlaub hatte.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt