VIERUNDFÜNFZIG

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Wie ein Echo meiner flatternden Finger zitterte das Wasser in meinem Glas. Yelena hatte es mir gegeben, zusammen mit dem Ratschlag, mich doch einen Augenblick auf die Couch zu setzen. In meinem Kopf klaffte eine Lücke.

Mum fehlte mir. Ich konnte nicht im entferntesten ermessen, wie sich Irinas Eltern fühlen mochten. Welche Narben ich aufriss, indem ich einfach vor der Tür auftauchte.

Yelena hatte sich wieder auf ihren Posten an der Tür zurückgezogen, bereit zur Flucht wie mir schien. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Mir ging es ähnlich. Ich wäre auch gerne davon gerannt. Wieder einmal.

Vorsichtig nippte ich an dem Glas. Eiskalt rann die Flüssigkeit durch meinen Hals. Um Zeit zugewinnen, trank ich einen weiteren Schluck. Dass Juri mir gegenübersaß und Yelena in meinem Rücken stand, verwirrte mich. Ich war mir unsicher, an wen ich meine Bitte richten sollte. Wen ich ansehen sollte. Irinas Vater? Oder ihre Mutter?

Ich wollte nicht entscheiden müssen. Beide hatten sie ihre Tochter geliebt.

Ich räusperte mich und drehte mich ein wenig nach hinten.

„Bisher hatte ich keine Gelegenheit, ihrer Tochter die letzte Ehre zu erweisen. Bei der Trauerfeier lag ich selbst noch im Koma. Mit ihrer Erlaubnis würde ich gerne morgen Irinas Grab besuchen."

Obwohl ich entschieden hatte, meine Bitte an Yelena zu richten, war es Juri, der mir antwortete. Wahrscheinlich, weil sie meine Lüge durchschaute und mich einer Antwort unwürdig befand. Natürlich hatte es genug Gelegenheiten gegeben. Zu den Jahrestagen ihres Todes. Zu Irinas Geburtstagen im April. Zu Weihnachten, Thanksgiving oder jedem beliebigen früheren Zeitpunkt. Aber ich hatte mich um diesen Schritt gedrückt.

„Natürlich. Jederzeit. Wenn Sie möchten, begleiten wir Sie. Oder beschreiben Ihnen den Weg. Ganz wie Sie wollen."

Verlegen schwieg ich. Die Zeit tröpfelte vor sich hin. Was war angemessen für die Umstände? Ich wollte nicht allein gehen. Gleichzeitig wollte ich keine Forderungen stellen oder eine Belastung sein. Mein Herz klopfte laut. Die Uhr tickte. Meine Hände zitterten.

„Es muss heute nichts beschlossen werden. Wir treffen uns morgen um halb zehn am Haupteingang", nahm Yelena mir die schier unmögliche Entscheidung ab. „Und dann sehen wir, wie es uns allen mit der Situation geht."

Dankbar nickte ich in die Stille zwischen uns und war froh, mich für heute verabschieden zu können.

Draußen atmete ich erst einmal tief durch. Ich hatte mich meiner längst überfälligen Verpflichtung gestellt. Trotzdem blieb jegliche Erleichterung aus.

Mit dem Auto verließ ich die Siedlung und fuhr eine Weile ziellos herum. Weder wollte ich im Hotel mit meinen Gedanken und Gefühlen allein sein, noch stand mir der Sinn danach kleinstädtische Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Ich wollte einfach nur zurück nach Hause.

Mich auf einen meiner wackligen Stühle setzen, auf das Meer blicken, den Wellen lauschen und Sand unter meinen Füßen fühlen. Ich wollte Sonne auf meiner Haut.

Und ich wollte zurück zu Anna. Mit ihr gemeinsam in den samtschwarzen Himmel schauen, wo tausende winziger silbriger Lichter über uns wachten. Ich wollte nicht mit ihr streiten. Alles was ich wollte, war, sie im Arm halten, meine Nase in ihrem Haar vergraben, den süßen Duft ihrer Haut einatmen.

Ich verdrängte das dumpfe, nagende Verlustgefühl, dass der Gedanke an unseren Streit in mir auslöste. Schob meinen Ärger über ihre Zurückweisung beiseite und griff stattdessen zum Telefon.

Nach dem dritten Klingeln ging sie ran.

„Carter?', fragte sie atemlos, obwohl sie meinen Namen auf dem Display sehen konnte.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt