Mit meinem unverhofften Auftauchen hatte ich Irinas Mutter völlig aus der Bahn geworfen. Wer konnte ihr verübeln, dass sie mir die Tür vor der Nase zuschlug...
Tatsächlich gehörte dieses Szenario zu den harmloseren Möglichkeiten, die ich mir ausgemalt hatte. Und erleichtert atmete ich auf. Ich hätte es mit einer Schrotflinte zu tun bekommen können, die der Vater auf mich anlegte. Oder Irinas Mutter hätte mich mit einem Küchenmesser attackieren können.
Die Hände in den Taschen meiner Jeans vergraben überlegte ich, was ich als nächstes tun sollte. Wieder gehen? Oder klopfen? Morgen wiederkommen? Mich an einen der Nachbarn wenden?
Ratlos wendete ich den Blick zum Himmel.
Mum, hilf mir!, flehte ich still um Beistand. Ich kann das nicht alleine!
Doch nichts geschah. Die Tür blieb verschlossen und auch kein Blitz fuhr von Himmel herab und erschlug mich, um mich aus der Situation zu befreien. Zögerlich klopfte ich erneut an. Stimmen erhoben sich im Haus. Türen wurden zugeschlagen. Dann kehrte Stille ein. Und als ich schon dachte, niemand würde mehr mit mir reden, schwang die Tür auf.
Zum zweiten Mal an diesem morgen begegnete ich Irina. Diesmal ihrem energischen Kinn, der hohen Stirn und der leicht schiefen Nase. Ich begegnete ihrer unbeugsamen Kraft, ihrem eisernen Willen.
Ihre Größe und die Anlage für ihren kompakten, muskulösen Körperbau hatte Irina ihrem Vater zu verdanken.„Ich bin Juri", stellte der Mann sich vor, der in Wirklichkeit einen der amerikanischsten Namen überhaupt trug. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Lincoln getauft. „Komm rein."
Er trat zur Seite.
„Entschuldige bitte die Reaktion von Yelena. Wir hatten einfach nicht mit dir gerechnet."
Und ich nicht mit einer Entschuldigung.
Wortlos folgte ich dem Mann ins Innere. Seine Pantoffeln schlurften leise über den Boden. Irgendwo tickte eine Uhr, zählte die Sekunden, die uns im Diesseits blieben, in ihrem stetigen und unaufhaltsamen Takt herunter.
Lincoln, alias Juri, führte mich in das Wohnzimmer, einen großen lichtdurchfluteten Raum. Hohe Fenster gaben den Blick auf die Terrasse und den dahinterliegenden Rasen frei. Eine Hecke diente als Sichtschutz zu den Nachbarn. Es fiel mir schwer, Irina in diese Szene zu projizieren. Sie mir vorzustellen, wie sie auf der Couch lümmelte und fernsah oder mir eine jüngere Version vorzustellen, die durch den Garten tobte.
„Darf ich Sie etwas fragen?"
Juri riss mich aus den Gedanken und ich nickte. Eigentlich war ich gekommen, um Fragen zu stellen. Aber dass Juri umgekehrt auch welche an mich richtete, fand ich nur fair.
Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Durch Wände. Er flog über Felder und Wiesen, durch Zeit und Raum. Meiner folgte ihm in die Hitze eines grellen Sommermorgens.
„Waren sie dabei? Als sie... gefallen ist? In ihren letzten Sekunden?"
Ich nickte, war vollkommen überrumpelt von der Direktheit, mit der Irinas Vater die Fragen stellte. Meine Stimme gehorchte mir nicht sofort. In meinem Kopf herrschte ein Tumult wie auf dem Basar. Schreie wirbelten zusammen mit Staub, Dreck und Rauch durch die Luft. Gewehre ratterten. Tom brüllte Befehle, die ich über das Pfeifen in meinen Ohren kaum verstand.
Die alte Socke drängte sich wieder in meinen Hals.
„Ja, ich war dort. Zumindest bis es mich selbst erwischt hat."
Juri kam näher und nahm ein Bild aus einer Schublade. Es zeigte Irina so wie ich sie kannte: in ihrer Uniform.
Sie lächelte in die Kamera, die Hände hatte sie hinter dem Rücken gekreuzt.
„Sie haben gesagt, Irina hätte nicht gelitten. Sie sagten uns, sie sei sofort tot gewesen. Stimmt das? Oder ist das eine der Lügen, die man trauernden Eltern über ihre Kinder erzählt? Mit denen man sie abspeist, um sie zu beruhigen?"
Ich drehte mich zu Yelena um. Sie lehnte am Türstock und hatte die Hände vor der Brust gekreuzt. Ihre Augen waren leicht gerötet, ansonsten wirkte sie nun sehr gefasst.
Die Zeit tickte herunter. Zehn, neun, acht.
Hatte sie gelitten?
„Carter? Alles okay bei dir?" Irinas sanfte Stimme, die gar nicht zu der muskulösen Frau passen wollte, veranlasste mich, kurz zu ihr zu blicken. Ein Fehler. Der größte Fehler meines Lebens.
Irinas Schrei zerriss die Stille und ich erstarrte mitten in der Bewegung. Blut quoll aus einer klaffenden Wunde an Irinas Hals.
„Carter!" Meinem Namen folgte ein gurgelndes Geräusch. Irinas Hand schoss an ihre Kehle. Blut floss aus ihrem Mund.
Unglauben zeichnete ihr Gesicht.
Einen Moment hatte sie Angst gehabt.
Ihre Beine gaben nach. Ihr Blick brach.Hektisch sog ich die Luft ein. Kühle, saubere Luft.
Sieben. Sechs. Ich schloss die Augen.
Auf drei Uhr. Sie hatte ihn kommen sehen.
Ich warf mich zur Seite, noch immer tief geschockt von Irinas Anblick.
Ich fühlte sie, die gleiche namenlose Leere wie damals. Sie klaffte in mir wie ein Abgrund. Ein riesiges schwarzes Loch, das alle Gedanke und Gefühle aufsog und ich baumelte über dem Abgrund. Eine leere, taube Hülle.
Fünf. Vier. Drei.
Ich warf mich herum. Der Mann stürmte auf mich zu. Ich legte an, hatte aber kein freies Schussfeld. Ein Junge im Teenageralter, vielleicht sogar etwas jünger, floh vor einem Bewaffneten und lief genau in meine Schusslinie, dann warf er sich auf den Boden.
Ich zögerte nur ein Blinzeln. Für einen Fangschuss, oder um ihn zu entwaffnen, war es zu spät, denn er riss die Waffe hoch.
Er oder ich.
Ich betätigte den Abzug. Mein Schuss zeriss die Luft und plötzlich fühlte ich wieder. Schmerz. Er explodierte in meinem Oberschenkel, in meinem Gehirn.
Zwei.
Mein Bein gab nach. Hart schlug ich auf dem Asphalt auf. Der Mann mit der Waffe lag reglos auf dem Boden.
Der Junge aber lief weiter. Auf die Tür zu, die wir unter allen Umständen schützen sollten.
Niemand. Darf. Da. Rein.
Eins.
Ich legte an. Der Knall war ohrenbetäubend. Ich blickte zu Irina. Blut überall.
Null.
Es war zu spät. Mein Ziel löste sich in einem Feuerball auf.
Glassplitter und Mauerwerk regneten in einem donnernden Gewitterschauer auf mich herab.
Doch diesmal blieb die Zeit nicht stehen. Die Uhr tickte. Mein Herz schlug schmerzhaft weiter. Die Uhr tickte. Und noch immer tat der Motor in meinem Brustkorb seinen Dienst. Die Uhr tickte.
„Sie..." hatte gelitten. Kurz. „war sofort tot."
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BLINDFOLDED - Blindes Verstehen
Romanzi rosa / ChickLitCarter ist ein Held! - Ein Frauenheld! Er ist einer jener Männer, die uns Frauen den Blick verschämt senken lassen, wenn wir ihm beim Bäcker, beim Tanken oder gar im Baumarkt begegnen. Weil wir glauben, einem Traummann wie ihm niemals zu genügen. Er...