ZWEI

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Fünf nach Sieben. Seit einer viertel Stunde zog ich Kreise um den Küchentisch und nutzte den schäbigen Linoleumboden weiter ab. Wieder und wieder kontrollierte ich mein Handy - es war nicht auf lautlos- legte es hin, hob es hoch, stellte fest, dass ich keinen Anruf verpasst hatte, legte es erneut hin. Wenn ich nicht gerade das Telefon prüfte, dann fuhr ich über meinen frisch rasierten Nacken, redete mir ein, alles wäre gut und ich lediglich ein überängstlicher Freak. Schließlich setzte ich mich auf den Stuhl, klemmte meine Hände zwischen die Knie. Nur um mich abzuhalten, Elaine oder Anna anzuschreiben. Kurz darauf kreuzte ich die Hände im Nacken und starrte an die Decke. Die Hilflosigkeit, nicht zu wissen, was die Verzögerung verursachte, trieb mich minütlich mehr in den Wahnsinn.

Dann endlich! Es klingelte. Meine Finger waren blutleer und steif, weil ich sie zu lange hinter dem Kopf verschränkt hatte. Taub und zittrig griff ich nach dem Telefon.
„Hey Carter!" Elaines fröhliches Lächeln erschien auf dem Display. Strahlende blaue Augen leuchteten mir entgegen.

Videoanrufe hasste ich eigentlich wie die Pest. Doch der Anblick Annas, deren herzförmiges Gesicht, über Elaines Schulter hinweg zu sehen war, versöhnte mich ein wenig mit der Situation. Ihr flammendrotes Haar war dank der Luftfeuchte vollkommen außer Kontrolle geraten. Das Schönste war jedoch, dass sie keine Brille trug und ihre blaugrünen Augen schimmerten wie das Meer, das sie über alles liebte. Annas offener Blick und das angedeutete Lächeln um ihre vollen Lippen lenkten mich davon ab, meine Schwester wegen ihrer Verspätung anzuschnauzen, und halfen mir, auf das Positive konzentriert zu bleiben: es ging Elaine bestens.

„Ich bin gut angekommen!", juchzte meine Schwester, ohne meine Sorge um ihr Wohlergehen auch nur wahrzunehmen.
„Und du glaubst nicht, wie warm es hier ist! Die Sonne scheint, Carter. Alle Leute tragen nur Shirts und kurze Hosen. Naja, fast alle. Kannst du das glauben?" Ihre Begeisterung wärmte mein Herz und entlockte mir mühelos ein Lächeln. Und ich glaubte ihr selbstverständlich. Immerhin hatte ich zehn Jahre an der Küste Floridas verbracht und kannte die warmen Winter zu Genüge.
Neidisch wendete ich meinen Blick zum Fenster, wo sich mir seit Tagen derselbe Anblick bot.
„Hier regnet es bei drei Grad", informierte ich die beiden und Anna verdrehte im Hintergrund die Augen.
„Waagerecht!", mutmaßte Anna vollkommen richtig.
„Gott, Carter wie halten die Leute dieses Wetter ein ganzes Leben lang aus?" Ihre Leichenbittermiene untermalte, wie sie das hiesige Wetter hasste.
„Ich könnte Smith mal nach Überlebenstipps fragen. Er macht den Scheiß schon ziemlich lang mit."
Sie lachte über mein Angebot. „Ich wette, er hat seinen Bart nur, um den Regen vom Gesicht abzuhalten." Kurz wendete Anna sich an Elaine. „Guck, da drüben kannst du diesen Tee kaufen. Geh ruhig schon vor. Ich komme gleich nach, ja?"

Bubble Tea am Flughafen kostete mit Sicherheit ein Vermögen, machte die Dreizehnjährige aber so glücklich, dass sie von ihrem üblichen coolen Schlendern in einen beschwingten Trab wechselte. Kurz erwog ich, einen Bubble Tea Stand neben dem Müllhäuschen eröffnen, um nie wieder ellenlange Diskussionen mit Elaine zu führen, wer den Beutel mit stinkendem Küchenabfall wegtrug.

Nachdem meine Schwester außer Hörweite war, erlosch das Display. Langsam entspannte ich mich. So erbaulich es war, Elaine glücklich zu sehen, so erleichtert war ich, dass der Bildschirm dunkel wurde. Videoanrufe hatten etwas Unwirkliches, das Nähe vorgaukelte, wo nur Einsamkeit war. Gleichzeitig bedauerte ich es ein wenig, Anna nicht mehr zu sehen.

„Tut mir leid, dass es länger gedauert hat. Wir haben den Koffer nicht gleich gefunden und als wir ihn entdeckt hatten, ist er wieder hinter der blöden Öffnung verschwunden und wir mussten eine weitere Runde warten."

Mit Zeigefinger und Daumen kniff ich in meine Nasenwurzel. Annas Augen war nie etwas entgangen. Zumindest nicht in der Zeit, bevor sie diese Sehbehinderung hatte. Wie gelang es ihr, einen blöden Koffer übersehen? Was hatte sie abgelenkt? Irgendwelche gutaussehenden Urlauber-Typen?
„Nein, ist schon gut", lenkte ich ein. „Mir tut es leid. Ich bin einfach nicht der Geduldigste."
„Weiß ich doch, Carter. Ist schon okay, wenn du dir Sorgen machst", seufzte sie. „Aber er ist gut drauf, dein Dad. Ehrlich. Und wir haben rund um die Uhr ein Auge auf sie. Versprochen. Bis du herkommst, planen wir ein ziemlich dickes Programm, sodass sie auch möglichst selten allein mit ihm ist."
Mit jedem Wort wurde das drückende Gewicht auf meinen Schultern ein wenig leichter.
„Und ich ruf dich jeden Tag an oder schreibe dir", versprach mir Anna. „Es wird nichts passieren, Carter. Nach allem, was du für mich getan hast, würde ich dich niemals so enttäuschen."
„Das war nichts", behauptete ich. Doch für Anna war es eine große Sache und wir wussten es beide, selbst wenn das Thema nicht offen zur Sprache kam. Für sie war das Leben immer eine Art riesiges Wimmelbild, das es zu analysieren und zu entwirren galt. Zuzusehen, wie sie durch einen beschissenen Unfall auf dicke Brillengläser angewiesen war, die ihre Sicht doch nicht vollständig wiederherstellten, war für mich beinahe unerträglich. Dass sie den Weg, auf den ich sie geführt hatte, mit Zuversicht gegangen war, bedeutete mir eine Menge. Ihr blindes Vertrauen war Dank genug. Wobei es Tage gab, wo ich mir wünschte, ihre Dankbarkeit hätte ein kleinwenig weiter gereicht und ich mich in der Lage gesehen, ein wenig mehr Nähe zu zulassen.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt