SECHSUNDDREISSIG

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Als ich aus den Waschräumen zurückkehrte, traute ich beinahe meinen Augen nicht. Anna stand neben dem kleinen Tisch vor meinem Airstream und legte in aller Seelenruhe einen Löffel und eine Gabel neben einen Teller. Ein appetitlicher Haufen Nudeln thronte darauf, umgeben von einem Ring von bereits geschälten Shrimps. Eine kleine Schale mit Salat rundete ihr Angebot ab. Als sie mich kommen hörte, hob sie den Kopf und strahlte mich an. Genüsslich wanderte ihr Blick über meinen Bauch, hinauf zu meinen ausgeprägten Brustmuskeln und erreichte zuletzt mein Kinn, das noch immer grün und blau schillerte. Etwas blitzte in ihren Augen auf. Anerkennung. Ein kleines bisschen Begehren? Ihr schien zu gefallen, was sie sah.

„Ich wollte dich nicht stören. Entschuldige bitte", erklärte sie ihre Anwesenheit und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Tisch. „Ich hab nur gesehen, dass du beim Laufen bist und dachte, du magst sicher noch was von den Resten."

Dass sie mir den Freiraum nicht gönnte, um den ich gebeten hatte, stresste mich trotz ihrer freundlichen Erklärung. Noch immer war ich nicht in der Stimmung für Gesellschaft.

„Stalkst du mich etwa?", fragte ich sie bissig. Doch Anna lachte nur über mich.

„Oh, da nimmt sich aber jemand sehr wichtig! Nein, Carter. Ich wollte schwimmen und hab auf dem Weg zum Strand gesehen, dass deine Laufschuhe weg sind. Also dachte ich, ich könnte dir heimlich etwas Essen in deine finstere Einsiedlerhöhle stellen. Nur warst du schneller zurück als ich dachte."

Missmutig schmiss ich meine verschwitzten Klamotten in einem wirren Haufen auf einen Stuhl und hängte erstmal mein Duschtuch zum Trocknen über die Tür. „So schnell war ich eigentlich nicht mal", grummelte ich, bevor ich mich um die Kleidung kümmerte.

„Du wirkst unzufrieden." Mit schräggelegtem Kopf musterte Anna mich.

„Da hast du recht, Sherlock. Ich hatte nämlich gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen. Ist das zu viel verlangt?", gab ich zurück und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.

Verunsichert runzelte Anna ihre Stirn.

„Ich kann auch wieder gehen?"

Nein. Ich wollte lieber, dass sie mich noch mal ansah wie eben. Als gefiele ihr, was sie sah.

„Super Idee", antworte ich stattdessen und verschwand im Wohnwagen, um mir was zu trinken zu holen.

Als ich wieder durch die Tür trat, ein Glas Eistee in der Hand, blieb ich wie angewurzelt stehen. Anna saß mit dem Rücken zu mir in aller Ruhe auf der Reling des Bootes und ihre schlanken Beine baumelten abwechselnd vor und zurück. Dagegen konnte ich rein gar nichts tun und sie wusste es.

„Lass dich von mir nicht stören. Ich bin quasi überhaupt nicht da", erläuterte sie ihr Tun.

Das Lächeln in Annas Stimme nahm mir komplett den Wind aus den Segeln. Sie hatte gewonnen. Mal wieder!

„Du willst dich also über mich lustig machen, ja?", erwiderte ich ihr, traf aber keinen Tonfall der gereizt klang, denn selbst mir war inzwischen klar, wie lächerlich ich mich benahm.

Da Anna mir nicht antwortete, schaufelte ich den Berg Nudeln, den sie mir gebracht hatte, Gabel für Gabel in mich hinein. Auch kalt schmeckten sie noch phantastisch.

„Warum warst du mit deiner Leistung heute unzufrieden?", erklang Annas Stimme vom Bug her. Ich verdrehte die Augen und schob mechanisch die nächste Gabel in den Mund. Bis ich die ersten Nudeln geschluckt hatte, war mir nicht mal richtig bewusst, wie groß mein Hunger war. Einmal angefangen konnte ich das Essen gar nicht schnell genug in mich hinein schaufeln. Bei jeder winzigen Unterbrechung, hatte ich das fatale Gefühl, augenblicklich zu verhungern.

„Nicht heute", antwortet ich kauend. „Es läuft schon seit Monaten nicht richtig."

„Hast du Schmerzen beim Laufen?"

Endlich drehte Anna sich zu mir um. Besorgnis stand in ihren hübschen Augen und ließ sie etwas dunkler schimmern als sonst.

„Nein. Nicht wirklich. Aber..." Mit dem Daumen klopfte ich auf den Tellerrand, während ich überlegte, wie ich mein Problem in Worte fassen konnte, ohne mich lächerlich zu machen, weil mein ganzes Problem - wie viele andere auch- offenbar nur in meinem eignen Kopf existierte.

„Das Laufen fühlt sich nicht richtig an. Ich finde meinen Rhythmus nicht und krieg den Kopf nicht frei. Vor der Verletzung bin ich einfach gelaufen, verstehst du? Hab einen Fuß vor den anderen gesetzt. Es war das Natürlichste auf der Welt und hat sich normal angefühlt. Wenn ich erstmal drin war, konnte ich in meinem Tempo Meile um Meile zurücklegen. Jetzt bin ich mit dem Kopf irgendwie ständig im Oberschenkel zugange und lausche in mich hinein, ob es weh tut und nicht, weil es wehtut."

Anna schien mit meiner schwachsinnigen Erklärung etwas anfangen zu können, denn sie nickte.

„Javier macht doch Laufbandanalysen im Gym. Vielleicht hat er ja einen Tipp, wie du zur alten Form zurückfindest?" Ihre Ernsthaftigkeit war Balsam für mich.

„Hab ich probiert. Sogar mehrfach. Nicht bei ihm natürlich. Alle, bei denen ich bisher war, sagen, mit meinem Laufstil sei alles in bester Ordnung. Und ich hab aus den Terminen auch immer Verbesserungen mitgenommen. Manchmal waren es Kleinigkeiten. Trotzdem fühlt es sich hier oben nicht richtig an." Ich klopfte mit den Fingerknöcheln gegen meine Schädeldecke. „Und Training beginnt nun mal im Kopf."

Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Aber ich sah, wie es in Annas Kopf arbeitete. Ihre Stirn war nachdenklich gefurcht.

„Du sitzt übrigens in der Sonne", teilte ich Anna mit. „Du wirst Sonnenbrand bekommen."

„Wahrscheinlich", seufzte sie und rutschte von der Reling. „Wann bekomme ich keinen und werde zur Abwechslung mal braun?" Leichtfüßig kam sie auf mich zu.

„Dein Kopf muss eine Lektion lernen. Und ich glaube, ich weiß auch schon, wie wir das machen."

Wie wir das machen. Wir. Anna und ich.

„Und wie machen wir das?"

Anna grinste verschlagen.

„Lass dich überraschen, Carter! Denkst du, du könntest mich morgen bei Steven abholen? Gegen halb acht müsste ich mit dem Putzen der Tanzsäle fertig sein."

Ich freute mich, dass Anna mir helfen wollte, konnte ihr aber trotzdem keine Zusage geben.

„Ehrlich Anna? Ich hab keine Ahnung. Mit Glück arbeite ich morgen schon mit Roy auf seiner Baustelle."

Annas Lächeln verrutschte kein bisschen.

„Kein Problem. Wenn du Zeit hast, dann kommst du. Bist du um halb acht nicht da, weiß ich Bescheid und wir verschieben es."

Sie lehnte sich in meine Richtung und drückte mir einen schnellen Kuss auf die Wange.

„Hey, wo gehst du hin?", rief ich ihr nach.

Sie drehte sich um, winkte kurz zum Abschied. „Muss für morgen was vorbereiten!"

Dann war sie weg und ich saß vielen Fragezeichen im Kopf und einem warmen Gefühl im Brustkorb vor meinem leeren Teller.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt