ACHT

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Der vierundzwanzigste Dezember brach sonnig an und nach einer äußerst kurzen und unruhigen Nacht schlich ich mich auf Zehenspitzen, für einen Urlaubstag viel zu früh, nach draußen. Mit meinen Badeshorts und einem Handtuch als Begleitung machte ich mich auf den Weg zum Strand. Die Sonne stand noch tief, die Schatten waren lang und rotgolden schimmerten die Schaumkronen an einem Strand der in Roségold getaucht war. Mit zusammengebissenen Zähnen schlang mein Handtuch um meine Hüfte, wand mich aus der Pyjamahose. Ein äußerst umständlicher und an dem leeren Strandabschnitt unnötiger Vorgang. Niemand interessierte sich im Augenblick für meinen knackigen Hintern oder meine beeindruckende Frontansicht. Der Grund für mein umständliches Manöver lag darin, dass ich heute keinen Blick auf die Innenseite meines nackten Oberschenkels werfen wollte. Annas gestrige Bemerkung, ich solle sie erschießen, hatte schlafende Hunde geweckt, die bellend Alpträume durch den Wohnwagen gescheucht hatten. Ich wollte einfach keinen Beweis sehen, dass an meinen Träumen mehr als ein Funken Realität haftete.

Dass die Narbe dort war, wurzelte ohnehin tief in mir wie das Wissen um die Tatsache, dass ich fünf Finger hatte. Genauso wenig musste ich nach unten blicken und mich vergewissern, ob die Zehen, noch dort waren, weil ich diese bei jedem meiner Schritte wahrnehmen konnte. Genauso verhielt es sich mit der Narbe. Sie war dort und ein lebendiger Teil von mir geworden, den ich fühlte. An manchen Tagen spürte ich sie schmerzhaft im Oberschenkel, an anderen nur in meinem Kopf, als wäre das Spiegelbild der Verletzung irgendwo auf meiner Großhirnrinde abgelegt, damit ich nicht vergaß, wie viel Glück ich gehabt hatte und wie dankbar ich sein musste, auf meinen eigenen zwei Beinen am Meer zu stehen. Ich konnte die Möwen kreisen sehen, das Platschen der Wellen hören. Nur fühlte ich sie heute nicht, diese Dankbarkeit, die mich jeden Tag meines Lebens begleiten sollte.

Nervös strich ich über meine nackte Brust. An dem bewussten Tag war mehr zerstört worden als Haut, Knochen und Blutgefäße. Cal hat an diesem Tag meinen Resetknopf gedrückt, mich zurück ins Leben geholt, obwohl mein Herz bereits aufgehört hatte zu schlagen. Dabei war mein Speicherstand gelöscht und mein persönlicher Levelfortschritt meiner Army-Laufbahn zurück auf Null gesetzt worden.
Gegangen war ich mit siebzehn, um ein glorreicher Kämpfer für die Demokratie und die Freiheit zu werden. Um mein Land, die Frauen und Mädchen, die Alten und Kranken zu schützen. Zurückgekehrt war ich mit knapp über achtzehn in einem Körper, der nicht mehr zu mir zu gehören schien und mir den Gehorsam verweigerte. Wie ein Baby im Kinderwagen hatte Mum mich im Rollstuhl umhergefahren und ich hatte eine dunkle Wolke tiefer Depression hinter mir her geschleift, wie ein Dreijähriger seinen heliumgefüllten Jahrmarktballon. Statt einer Familie die mich auffing, fand ich mich wieder und wieder dem Spott und der Häme meines Vaters ausgesetzt, unfähig ihm aus eigener Kraft aus dem Weg zu gehen. Meine Träume waren geplatzt wie ein Ballon und Dad stocherte mit einer schmerzhaften Beharrlichkeit in den Fetzen herum bis Mum eines nachts endgültig die Geduld verließ und sie mit uns verschwand.
Und nun war ich wieder hier. Ein bisschen stärker als damals, ein bisschen widerstandsfähiger, ein bisschen älter. Doch noch immer war ich der gleiche Junge, der sich vor seinem Vater fürchtete. Nicht mehr vor den brutalen Fäusten, sondern davor das eigene Versagen täglich vor Augen geführt zu bekommen.

„Ist es sehr schlimm?"
Annas gefühlvolle Stimme riss mich wie schon gestern aus den Betrachtungen meines trüben Daseins. Eigentlich hatte ich keine Ahnung, welches „es" sie meinte. Fragte Anna nur nach der offensichtlichen Tatsache, dass ich meiner Schwester zu Liebe hier war oder umfasste die Nachfrage die Gesamtsituation.
„Mal mehr, mal weniger", gab ich kurzangebunden zurück und sah zu ihr rüber. Kurz verharrten meine Augen auf ihrem Körper, denn mir bot sich ein seltener Anblick. Wegen ihrer hellen Haut bevorzugte Anna gerade im Sommer langärmlige Oberteile. Da die Morgensonne noch nicht so kräftig vom Himmel brannte, trug sie nur ein Bikinioberteil mit hellblauem Schnee-Tarn-Muster und um die Hüften ein dünnes beiges Tuch, das ihre makellosen Oberschenkel vor neugierigen Blicken verbarg.
Die Haut der sonst immer bedeckten Schultern war noch heller als ihre Unterarme. Eine wilde Schar von Sommersprossen zierte Annas Schultergürtel wie Zimt und Zucker eine Portion Milchreis.
„Warst du schon schwimmen?", fragte sie mich. Sie zog einen Haargummi von ihrem Handgelenk und klemmte ihn sich zwischen die Zähne.
Natürlich kam ich mal wieder nicht umhin, sie aufzuziehen. „Ja, nackt. Deswegen ist meine Badehose auch trocken, weißt du."
Sie wickelte den Haargummi um den Dutt, den sie gedreht hatte. Sofort explodierten die Locken wieder in alle Richtungen.
„Witzig, dass du das erwähnst. Wenn ich Männer am Strand stehen sehe, sind ihre Shorts immer das erste, was ich mir ganz genau ansehe", gab sie schnippisch zurück. Dann sagte sie freundlicher: „Eigentlich wollte ich nur höflichen Small-Talk machen, weißt du?"
Sie faltete das Tuch zusammen, das sie von den Hüften gezogen hatte und legte ihre Brille darauf.
„Kommst du mit rein, oder willst du noch ein bisschen auf die Wellen starren?"
Ohne den Hauch eines Zögerns lief sie einfach los und ich sah ihr zu, wie sie Sekunden später unter der Wasseroberfläche abtauchte. Ein wenig genervt folgte ich ihr. Eigentlich wollte ich richtig schwimmen und nicht nur ein bisschen planschen! Das hatte ich mir mit meinem blöden Getrödel nun selbst verkackt.
„Bis zur Boje und zurück?" Anna tauchte knapp neben mir auf und deutete in die Richtung, die sie meinte.
„Du schwimmst zur rechten Boje, ich nehme die Linke und komm dann zu dir rüber", machte ich einen Gegenvorschlag, den sie mit einem mürrischen Blick quittierte.
„Weil du glaubst, dass ich die Strecke nicht schaffe? Ich bin keine schlechte Schwimmerin, Carter."
Aber eben auch keine Kampftaucherin.
„Das weiß ich, aber ich bin ein knallharter Kerl und ich brauche eine Herausforderung."
Kurz schätzte ich die Entfernungen ab. Wenn ich einen guten Tag hatte...
„Ich bin so oder so vor dir an der rechten Boje. Egal welchen Weg ich schwimme", behauptete ich, machte es aber damit nicht besser. Anna hob zweifelnd eine Augenbraue.
„Oh, oh, Carter, da nimmt aber jemand den Mund sehr voll. Was kriege ich, wenn ich gewinne?"
Leise lachte ich. „Wirst du nicht. Überleg dir lieber, was ich bekomme."
Nachdenklich blickte sie auf die Boje, kaute auf ihrer Unterlippe und voller Erwartung sah ich ihrer Antwort entgegen, war schon fast ein wenig aufgeregt, was sie mir vorschlagen würde. Von der Antwort hing nichts ab und irgendwie doch vieles, als sie mich wieder mit ihren meerblauen Augen ins Visier nahm.
„Was möchtest du denn dafür?"
Meine dämliche Hoffnung fiel in sich zusammen, dass für mich ein wenig Abstand zu Dad drin sein könnte. Eine Auszeit von der Anspannung, die mich letzte Nacht den Schlaf gekostet hatte.

„Eine Gegenfrage? Mehr fällt dir nicht ein? Du enttäuschst mich." Tatsächlich entsprach das der Wahrheit.
Betroffen sah Anna mich an. Inzwischen bebten ihre Lippen ein wenig. Vor Kälte, vielleicht aber auch, weil mein aggressiver Unterton einfach total daneben war. Nichts hatte mir ferner gelegen, als sie zu kränken.
„Ist nicht so, dass mir nichts einfallen würde. Ich hätte hundert Ideen, aber wenn du gewinnst, dann ist es nur fair, wenn du mir sagst, was du verlangst, oder?"
„Gut", lenkte ich ein. „Wenn ich gewinne, fährst du alle drei Tage mit mir aufs Meer hinaus und ich schwimme von dort zurück."
Nachdenklich krauste sie die Nase, während sie meinen Vorschlag auf sich wirken ließ.
„Einverstanden. Aber wenn ich gewinne, dann darf ich dir eine Frage stellen und du musst sie ehrlich beantworten."
Leise schnaubte ich.
„Was ihr Mädchen nur immer mit eurer „einen" Frage haben. Als ob man einen Menschen besser kennenlernen würde, weil man weiß, dass er eine Decke auf eine einsame Insel mitnehmen würde."

Irritiert runzelte Anna die Stirn.
„Du würdest eine Decke auf eine einsame Insel mitnehmen? Warum?"
Süß. Ihr war anzusehen, wie ihre Gedanken in ihrem Kopf herumirrten und wie sie alle möglichen Lösungen in Betracht zog und dann wieder verwarf.
„Warum eine Decke, Carter?", fragte sie noch drängender.
„Ist das deine Frage? Dann stell sie noch mal, wenn du gewonnen hast."
Mit kräftigen Zügen schwamm ich los.
„Carter, das ist Betrug!", rief sie mir nach, „du kannst nicht einfach..."
Das Wasser schluckte ihre Worte, während ich mit dem Kopf untertauchte. Eine Schwimmbrille wäre toll, stellte ich fest. Die lag aber noch im Trailer in meiner Tasche.

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt