VIERZIG

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Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, war aber noch immer heftig genug, damit ich froh war, in Roy jemanden gefunden zu haben, der mich in zweiter Reihe direkt vor dem Café absetzte, in dem Anna arbeitete. Mit der Tüte eines örtlichen Discounters unter dem Arm trat ich durch die Tür und suchte den Laden nach Anna ab. Ich entdeckte sie bei einer Gruppe von drei jungen Mädchen in Elaines Alter, die noch diskutierten, was sie bestellen wollten und Anna gab ihnen mit einem vorsichtigen Lächeln ein paar Tipps. Als sie sich mit den Karten in der Hand endlich zu mir umwendete, wurde ihr Lächeln etwas breiter und ihre Augen strahlten. Wie von selbst hoben sich bei ihrem Anblick auch meine eigenen Mundwinkel. Eine seltsame Sehnsucht stieg in einer Welle von meinem Magen langsam in meinen Brustkorb, drückte mein Herz für einen Moment schmerzhaft zusammen und nahm mir einen kurzen Moment den Atem. Der Wunsch, Anna in den Arm zu nehmen, sie einfach festzuhalten, war noch nie so groß wie in diesem Augenblick, in dem sie auf mich zukam und mich mit einem schüchternen „Hey" begrüßte. „Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet."

„Der Regen kam früher als gedacht", erklärte ich mein reichlich spontanes Auftauchen. „Ich würd einfach derweil einen Kaffee nehmen und dann draußen auf dich warten?"

„Was? Nein! Es regnet doch noch immer!", protestierte Anna.

„Ist schon okay. Koffein und frische Luft sind genau das, was ich gerade brauche", versuchte ich Anna zu beruhigen.

„Keine gute Nacht gehabt?", erkundigte sie sich mit mehr Mitgefühl, als ich verdient hatte.

„Zu kurz", fasste ich das Problem zusammen, das ich mir mit meiner Putzerei selbst geschaffen hatte und folgte Anna dabei zum Tresen.

„Was darf es denn sein? Doppelter Espresso oder ein großer Cappuccino?"

Beides klang verlockend, die Preisliste, die mit Kreidestift auf große schwarze Tafeln oberhalb von Annas Kopf geschrieben war, ließ mich jedoch einen Filterkaffe wählen. Meine Haushaltssituation war ohnehin angespannt und dass ich Hux wegen neuer Benzoes angraben musste, weil Cal sich gegen ein Rezept verwehrte, trug nicht zur Entspannung bei.

„Hast du mal was von Huxley gehört in den letzten Tagen?", horchte ich Anna aus.

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Und ehrlich gesagt, hab ich auch nicht versucht, ihn zu kontaktieren. Robin hat mir aber geschrieben, dass er ihr die Ohren volljammerte, weil wir uns geküsst haben. Und falls er anfängt zu heulen, soll ich gefälligst zum Aufwischen kommen. Mehr weiß ich auch nicht", gab sie kleinlaut zurück und reichte mir den Pappe-to-go-Becher mit Kaffee. Das waren keine optimalen Voraussetzungen für mein Anliegen.

Trotzdem wählte ich Huxleys Nummer, während ich unter der Markise des Cafés wartete, dass Anna Feierabend machen durfte.

„Ah, mein Freund Judas ruft mich an", meldete sich Hux mit einem Singsang, der mich sehr an Jordans erinnerte, als er den Paten für mich gegeben hat. „Was kann er noch von mir wollen?", sinnierte er dann übergangslos voller Sarkasmus. „Mein Mädchen hat er ja schon!"

Kein guter Start in unser Gespräch. Ich konnte seine Ablehnung durchs Telefon bis tief in meine Knochen spüren.

„Können wir vernünftig darüber reden?", fragte ich vorsichtig.

„Vernünftig darüber reden? Über was jetzt genau? Darüber, dass du erst behauptest, du hast keinen Bock auf Anna und sie dann hinter meinem Rücken aufreißt? War irgendwie für'n Arsch die ganze Aktion."

Bevor ich antwortete, atmete ich tief durch.

„Ich hab Anna nicht aufgerissen, Hux. Es war eher umgekehrt."

BLINDFOLDED - Blindes VerstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt