Familie

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Mein Stiefvater schob mich sanft durch die Haustür. Er hatte kein einziges negatives Wort gesagt. Kein Schimpfen. Kein Verurteilen. Keine dummen Fragen. Nichts. Er war einfach nur da gewesen, als es hieß, ich wäre in der Notaufnahme. Der Mann meiner Mutter hatte alles stehen und liegen gelassen und war zu mir gefahren. Einfach so. Ohne zu zögern. Und ich bekam nicht einmal ein einfaches ‚Danke' heraus.

„Wo zum Teufel kommt ihr denn so spät her? Wisst ihr, wie viel Uhr es ist? Es ist ja fast am Morgen! Wo ward ihr?" Meine Mutter wickelte sich ihren Bademantel enger, den sie über ihrem Schlafanzug trug. Sie klang wütend. Aber wir wussten beide, dass sie nicht wütend, sondern nur schrecklich besorgt war.

Ich kickte meine Schuhe von den Füßen. Etwas umständlich, denn runterbeugen mochte ich mich nicht.

„Du meine Güte...! Nici, wie siehst du denn aus?" Die kleine Frau kam auf mich zu und griff sich mein Gesicht. Es musste komisch aussehen. Schließlich war ich sehr viel größer als meine Mutter.

„Lass den Jungen ins Bett gehen." Mein Stiefvater versuchte es, obwohl er wusste, dass seine Frau nicht locker lassen würde.

Ich stieß die Luft aus meiner Lunge und schloss erschöpft die Augen. „Mama, bitte..." Man hörte mir wahrscheinlich an wie fertig ich war. Wie am Ende ich war. Durch. Ich wollte einfach nur noch schlafen und nie wieder aufwachen. Mein Kopf dröhnte furchtbar, trotz der Schmerzmittel, die man mir gegeben hatte.

„Bist du hingefallen? Gegen eine Laterne gelaufen? Sie ist gebrochen oder?" Sie begutachtete mein geschwollenes Gesicht.

„Nein, Mama, mir wurde die Nase gepudert", brummte ich und wischte ihre Griffeln von meinen Wangen, nur damit sie kurz darauf den Weg wieder dorthin zurückfanden.

„Hast du dich etwa geprügelt...?"

„Mama..." Ich hatte wirklich keine Lust auf ein solches Gespräch. Nicht nach dieser Nacht. Nicht mit einer frisch gebrochenen Nase. Nicht mit dieser Laune. Und nicht um diese verfickte Uhrzeit.

„Sag mir, dass du dich nicht geprügelt hast, Nicolai." Man kaufte ihr die strenge Mum sofort ab.

„Der andere sieht mindestens genauso schlimm aus." Es war eine Lüge. Der Neue meiner Ex sah nicht einmal halb so schrecklich aus.

„Also stimmt es?"

„Lass es gut sein", bat ich sie.

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. „All die Jahre konntest du dich ganz gut benehmen und jetzt wo du 18 bist, übertreibst du es plötzlich?"

Ich fasste mir an die Stirn. Meine Kopfschmerzen wurden schlimmer.

„Schatz, lass ihn..."

„Halt dich da raus!"

Der Vater meines Bruders hob seine Hände, sah mich entschuldigend an. Er hatte es wirklich versucht.

„Wieso schlägst du dich mit anderen, hm? Hab ich dich so schlecht erzogen?"

Mir entwich ein kurzes Lachen.

„Nicolai?"

„Du warst doch nie da!" Ich spürte, wie diese Wut von vorhin wieder aufkam. Es schien, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen. In einer einzigen Nacht. Wieder dieses Brodeln. Dieser Druck. Es musste raus. Alles musste raus. Ich platzte. Nach all den Jahren, die ich geschwiegen hatte. „Wer war denn immer Zuhause und hat mir bei den Hausaufgaben geholfen? Wer hat meine aufgeschürften Knie verarztet? Mit wem hab ich zu Abend gegessen, weil du Überstunden geschoben hast?"

Mamas Augen wurden glasig. Ich hasste es, dass sich deshalb auch in meinen die Tränen sammelten. „Das ist nicht fair, Nici."

„Was ist nicht fair? Die Wahrheit?" Meine Stimme brach.

„Ich hab mir den Arsch aufgerissen, um Geld zu verdienen. Für dich. Für uns. Für unsere Familie."

„Für deine Familie." Kurz flog mein Blick zu meinem Stiefvater. Wieder tat ich ihm weh, denn es war offensichtlich, dass ich mich nicht zu ihrer Familie dazu zählte. Zu seiner Familie. Die drei waren perfekt. Aber eben ohne mich. Ich passte nicht rein in das Bild. Ich war nur das Mitbringsel. Meine Mutter gab es damals eben nur mit dem Extra namens Nicolai.

„Es ist auch deine Familie, Nici."

„Nein, Mama, es war nie meine Familie." Es tat weh, es zu sagen. „Du warst meine Familie. Du ganz allein. Aber, Mama, du hast mich im Stich gelassen. Was ist aus ‚Mam und Nici gegen den Rest der Welt' geworden? Du hast einen Fick darauf gegeben. Auf dein Versprechen, dass du immer da wärst. Wir waren ein Team. Und dann kommt irgendein Mann." Ich hasste mich dafür, dass meine Hand auf einen liebevollen Vater zeigte. „Irgendein Mann, der dir plötzlich den Kopf verdreht. Der dich mir wegnimmt. Der mir meine Mutter wegnimmt. Den einzigen Menschen, der wirklich meine Familie war. Fuck..." Mir entwich ein Schluchzen. Ich hatte mich jedoch zu sehr in Rage geredet, um meinen Monolog einfach zu beenden. „Weißt du, wie kacke es ist, der einzige in diesem Haus zu sein, der einen anderen Namen hat? Es steht der Name einer perfekten Family am Briefkasten. Und meiner. Ich hasse es so sehr. Und ich hasse diesen verfickten Namen. Kein Wunder, dass du ihn nicht mehr haben wolltest. Wer will schon ein Niemand sein? Aber, Mama, du hast mich damit im Stich gelassen. Als du diesen verkackten Namen abgelegt hast, hab ich meine Familie verloren." Mein Herz wurde zerquetscht. Ich kotzte ihr all das vor die Füße. Ich verletzte sie ganz bewusst mit meinen Worten und ja, ich wollte, dass es wehtat. Dass es ihr wehtat. Dass es mir wehtat.

„Ich... Ich hab dich nie im Stich gelassen." Die Frau wurde noch viel kleiner, als sie ohnehin schon war. „Das ist nicht fair... nicht fair." Sie zitterte und schluchzte, schüttelte die Arme ihres Mannes, der sie trösten wollte, ab.

Ich wandte mich um und lief die Treppe hinauf, weil ich diesen Anblick nicht ertragen konnte. Weil ich dieses Gespräch nicht beenden wollte. Ich wollte im Streit auseinander gehen. Ich wollte, dass sie litt. Wegrennen. Darin war ich immer gut gewesen. Mein Ego war zu stur, um mich zu entschuldigen für die harten Worte. Natürlich waren es meine Gefühle, aber hätte ich es nicht netter sagen können? Friedlicher? Versöhnlicher? Nein! Es sollte sie treffen und es sollte mir so leid tun, dass ich mich für all meine Worte hasste, weil ich sie nicht zurücknehmen konnte. Ich wollte diesen Streit. Diesen Krieg. Zwischen meiner Mutter und mir. Diesen Krieg in mir drin. Dieses Chaos.

Ich wollte, dass meine Mauern aus Armseligkeit endlich in sich zusammenbrachen. In Schutt und Asche zerfielen und alles zerquetschten. Kein einziger Stein sollte mehr auf dem anderen liegen. Es sollte leer sein. Leer und einsam und ganz still. Denn dann würde ich vielleicht etwas neues bauen können. Etwas schönes. Etwas ohne Angst. Ohne Frust. Eifersucht, Neid, Hass, Wut, Traurigkeit. Etwas, das sich gut anfühlen würde.

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt