Ich brüllte die Lyrics lautstark mit, die aus Marcos Boxen donnerten. Seine Nachbarn liebten mich jedes Mal aufs Neue dafür. Aber sie hatten es längst aufgehen, sich zu beschweren. Sie kannten mich und sie wussten ganz genau, dass sie die Playlist mit mir bis zum Ende hören mussten. Das ging immerhin schon seit Jahren so.
Tanzend sprang ich durch die Küche meines besten Freundes, schrie in die Spagetti, die mir als Mikrofon dienten. Mein Publikum, das Alibiobst, das in Marcos Obstschale lag, feierte meinen Auftritt. Natürlich tat es das. Ich war immerhin ein Weltstar.
Auch als der alte Mann seine Anlage auf Stumm drehte, sang und tanzte ich unbeirrt weiter. Schwungvoll drehte ich mich zu ihm um und zeigte mit dem Finger auf den Mann, der wahrscheinlich einfach nur seine Ruhe haben wollte. Er kam immerhin gerade von der Arbeit und wollte seinen wohlverdienten Feierabend einfach nur genießen. Nicht mit mir. Mein Bewegungsdrang war stärker, als das Bedürfnis, Rücksicht zu nehmen. Und das war ihm mehr als bewusst. Immerhin kannte er mich bereits mein ganzes Leben lang.
Genau zum Refrain drehte er am Rad und die Musik knallte noch lauter als vorher durch seine Bude. Ich war nicht der einzige, der die Songliste in und auswendig kannte.
Ich warf die Spagetti ins Nudelwasser, ehe ich auf meinen Socken zu dem fast 60-Jährigen hinüber schlitterte. Ohne eine Miene zu verziehen, sprang ich wie ein Irrer vor ihm herum, trällerte eines meiner Liebsten Lieder. Ich wusste, dass es ansteckend war. Und ich wusste, dass mein bester Freund sich nicht zurückhalten konnte, egal wie sehr er es versuchte. Denn es kam dieses eine bestimmte Lied. Dieses Lied, das wir beide so häufig gehört und gegrölt hatten, dass wir es noch im Grab singen würden. Es war sein absolutes Lieblingslied. Als ich klein war, hatte er es manchmal stundenlang auf Dauerschleife gehört. Er hatte eine ganze Kassette mit ein und dem selben Lied. Immer und immer wieder.
Ich fing an zu grinsen, sprang noch wilder, als Marco endlich anfing mitzutanzen. Er bewegte sich total bescheuert. Das hatte er schon immer getan. Allerdings hielt er sich für sein Alter noch wirklich gut. Brüllend packte ich meine Hände auf seine Schultern, schüttelte ihn ganz leicht, was ihn zum Lachen brachte. Er verwuschelte mir meine blonden Locken, ehe er mich sanft von sich stieß.
Erst als die Playlist vorbei und das Essen fertig war, reden wir miteinander. „Hier..." Ich reichte ihm einen Teller.
„Danke sehr." Er nahm mir auch die Gabel ab. „Bevor du dich hinsetzt..."
Ich warf ihm einen Blick zu. „Klar", meinte ich nur und stellte meinen Teller auf dem Couchtisch ab, um zur Anlage zu gehen. Grinsend hielt ich die Kassette hoch, die voll mit diesem einen Lied war. Mir war klar gewesen, dass er sie hören wollte. Ich steckte sie ins Kassettendeck und schaltete sie ein. Allerdings drehte ich die Lautstärke wesentlich runter.
„Das haben wir ewig nicht gemacht", meinte Marco, als ich mich mit meinen Essen neben ihn auf die Couch warf.
„Stimmt."
„Du bist inzwischen ja auch nicht mehr so oft hier!" Es klang fast wie ein Vorwurf, aber ich wusste, dass es nicht so gemeint war. „Ist fast merkwürdig."
„Wahrscheinlich schön ruhig!"
Mein bester Freund musste lachen. „Da hast du Recht. Aber eben auch ziemlich langweilig. Ich roste noch ein, wenn du nicht mehr so häufig rumnervst."
Ich stieß ihn mit meinem Ellenbogen an. „Ich werde immer Zeit finden, dich zu nerven. Immer immer immer!"
„Das will ich schwer hoffen!" Der bärtige Mann legte seinen Arm um meine Schultern und drückte mich kurz an sich. „Sonst muss ich wohl leider sterben, wenn du es nicht tust."
„Das können wir nicht zulassen!", rief ich und streckte die Gabel in die Luft. „Du darfst niemals sterben! Dann muss ich nämlich auch sterben." Ich meinte es vollkommen ernst. Ihn zu verlieren, wäre das schlimmste, was mir passieren konnte.
„Du hast doch jetzt Raffaele."
„Halt!" Ich sah ihn grimmig an. „Sowas will ich nie wieder von dir hören!"
„Bist du später wieder bei ihm?"
Leicht schüttelte ich den Kopf. „Der ist die ganze Woche nicht da."
„Ohje." Marco zog eine Schnute. „Das hältst du aus?"
Ich boxte ihn. „Halt die Klappe!"
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Niemand [boyxboy]
RomanceEin Niemand. So wird er von anderen behandelt. Und so behandelt er sich vor allem selbst. Denn er ist ein Niemand. Nic Niemand. Sein Nachname bestimmt sein ganzes Leben, bis ein Mensch in sein Leben tritt, der ihm zeigt, dass er ein Jemand ist.