Meine Mutter ließ sich von der Couch zu mir auf den Boden rutschen. Sie stützte ihren Kopf und betrachtete mich einen Augenblick. Die Stimmung war definitiv nicht mehr so drückend wie zuvor, doch wussten wir beide, dass wir auch ernsthaft miteinander reden mussten. Uns aussprechen. Alles von der Seele reden. Gemeinsam die Steine aus dem Weg räumen.
„Nici..."
Ich legte meinen Kopf aus die Sitzfläche der Couch und erwiderte ihren Blick. „Ma?"
„Hab ich dich wirklich im Stich gelassen?"
So lange und so oft hatte ich über dieses Gespräch nachgedacht. Über genau diese Frage, denn sie musste einfach kommen. Dennoch wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Worte waren nie meine Stärke gewesen und über meine Gefühlswelt zu sprechen, war schon immer so unglaublich schwierig gewesen. Aber ich musste es tun. Meine Mitmenschen konnten nicht in mich hineinblicken, selbst, wenn sie mich besser kannten, als jeder andere. Keiner konnte Gedanken lesen oder das Herz an ein Gerät anschließen, das sie Gefühle in Worte fasste. Das musste ich ganz alleine tun. Meine Gedanken frei lassen und meine Gefühle deuten. Mir entfuhr ein leises Seufzen. „Weißt du... es hat sich immer so angefühlt", gab ich zu.
In ihren Augen bildeten sich Tränen, doch hielt sie sie tapfer zurück. „Das tut..." Sie räusperte sich. „Das tut mir wirklich leid, Nici. Das war sicher nie meine Absicht."
„Das weiß ich doch, Mama." Ich nahm ihre Hand, drückte sie sanft. „Aber als Kind konnte ich das einfach nicht verstehen. Vielleicht wollte ich es auch nie verstehen. Du wurdest mir entrissen. Deine Arbeit hat dich mir weggenommen. Du warst nie da. Dein Mann hat dich mir weggenommen. Ich war plötzlich nicht mehr der einzige, der dir etwas bedeutet hat. Wenn du mal Freizeit hattest, hast du sie nicht nur mit mir allein verbracht. Da war dann dieser Typ dabei, der mich so wütend gemacht hat. Er hat unser Team auseinandergerissen und ein neues mit dir gebildet. Ich wurde dabei zurückgelassen. Und als wäre das nicht genug gewesen, heiratet ihr und du legst den Namen ab, den dein Sohn aber weiterträgt. Ganz allein, denn du warst die einzige, die ich kannte, mit diesem Namen. Leo hingegen hatte natürlich euren Namen. Er ist das Kind von euch beiden, während ich nur dich hatte und keinen Vater. Das hatte mich nie gestört, bis ich Leo mit seinem gesehen hab. Ich war so schrecklich eifersüchtig. Am liebsten..." Meine Stimme zitterte. Es war schwer, so ehrlich zu sein. „Ich war manchmal so eifersüchtig auf meinen Bruder, dass ich ihm am liebsten ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hätte, damit ihr mich endlich auch bemerkt..." Nun war ich es, der seine Tränen nicht zurückhalten konnte. Noch nie hatte ich diese grausamen Gedanken zugegeben. „Er hat alles das bekommen, was ich immer haben wollte. Und er hat das bekommen, was zuvor nur mir allein gehört hat. Es war so... scheiße plötzlich meine Ma teilen zu müssen, obwohl sie sowieso schon so wenig Zeit für mich hatte. Ich musste dich nicht mehr nur mit diesem Mann teilen, sondern auch mit einem anderen Kind. Mit deinem zweiten Sohn, der so viel Aufmerksamkeit brauchte, weil er eben noch ein Baby war. Ergibt ja auch Sinn. Aber ich war zehn und hab mich im Stich gelassen gefühlt. Von dir. Von Allen, weil sie sich alle über die Hochzeit und das Baby gefreut haben. Von der ganzen Welt, weil ich nur so ein mickriger Krümel bin. Von Gott, wenn es einen gibt. Denn der nimmt einem Kind doch nicht seine Mutter weg? Ich hab mich so..." Ich zog die Nase hoch, wischte mir über das Gesicht. „Ich hab mich immer so schrecklich allein gefühlt. Ohne Marco wäre ich komplett allein gewesen."
Meine Mutter drückte sanft meine Hand. „Du warst nie allein. Und auch, wenn es Marco nicht geben würde, wärst du trotzdem nicht allein. Niemals. Du warst es nie und du wirst es niemals sein. Es tut mir so unendlich leid, dass es sich so angefühlt hat. Ich hatte ganz sicher nie die Absicht, dich so fühlen zu lassen. Ehrlich gesagt, wusste ich es auch nicht. Ich wusste nicht, was in dir vorgeht und ich fühle mich schrecklich damit, dass ich es nie gesehen hab. Du warst eben ein bockiges Kind. Aber, dass du so gelitten hast, hab ich nie bemerkt. Das tut mir so schrecklich leid." Auch sie konnte ihre Tränen nicht mehr halten.
DU LIEST GERADE
Niemand [boyxboy]
RomanceEin Niemand. So wird er von anderen behandelt. Und so behandelt er sich vor allem selbst. Denn er ist ein Niemand. Nic Niemand. Sein Nachname bestimmt sein ganzes Leben, bis ein Mensch in sein Leben tritt, der ihm zeigt, dass er ein Jemand ist.