Die Mauer, an der ich lehnte, drückte kalt gegen meinen Bauch, während ich meinen ganzen Frust in die Dunkelheit hinaus brüllte. Als ich klein war, hatte Marco mich öfter hierher gebracht, wenn ich bockig war. Er hatte immer gesagt, ich soll alles rausschreien, dann würde es mir besser gehen. Und ihm auch, weil er nicht mehr das Opfer meiner schlechten Laune war. Er hatte Recht. Es hatte bisher jedes Mal gut getan, die angestauten Gefühle raus zu lassen. Ich dachte, durch die Prügelei und den Zoff mit meiner Mam, hätte ich sie bereits raus gelassen. Doch irgendwie fühlte ich mich nur noch mieser. Ich fühlte mich schuldig. Es wurden Menschen verletzt. Menschen, die mir egal waren, und Menschen, die mir die Welt bedeuteten. Weder die einen noch die anderen hatten es verdient verletzt zu werden, nur weil ich unglücklich war. Mein Verhalten war kindisch und dumm. Egoistisch. Natürlich drehte sich die ganze Welt nicht um mich und ich musste verstehen, dass ich nur ein kleiner Krümel vom Ganzen war. Ich hatte nicht das Recht andere in den Dreck zu ziehen, nur damit sie genauso dort unten lagen, wo ich lag. Nur damit ich nicht mehr allein war. Kein Niemand war.
Ich wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht. Wieso musste ich so eine jämmerliche Heulsuse sein? Ich war quasi ein Mann. Männer flennten nicht wie kleine Kinder. Erneut holte ich tief Luft und schrie vom Dach des Parkhauses. Es war mir egal, dass man mich hören konnte. Dass es Leute verstören könnte, wenn ein Irrer spät am Abend von Dächern rief.
Erschöpft stützte ich meinen dröhnenden Kopf auf meinen Händen. Seit dem Streit mit meiner Mutter hatte ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Es war ein paar Tage her. Wir waren einander aus dem Weg gegangen. Ich hatte sie nicht einmal gesehen. Das war auch gut so, denn, was hätte ich ihr denn sagen können? Ich war nie der Typ für Entschuldigungen gewesen, wenn es wirklich ernst wurde. So vermeintlich einfache Worte. Sie steckten mir im Hals fest und schnürten mir die Luft ab. Kamen einfach nicht raus und ich stand da wie der letzte Vollidiot und wenn es ganz mies lief, fing ich einfach an zu weinen. So wie ich es eben tat, wenn es zu viel wurde. Und es wurde immer zu viel. Mein ganzes Leben war zu viel.
„Hilft das?"
Ich fuhr erschrocken zusammen und richtete mich etwas auf, um zu ihm sehen zu können. Wahrscheinlich hätte mit jedem gerechnet. Mit Marco. Meiner Mutter. Sogar mit meinem Stiefvater. Aber nicht dem ihm. Eine dritte unbeabsichtigte Begegnung war zu unwahrscheinlich. Eigentlich.
„Ja, etwas...", gab ich zu und sah auf den Autoschlüssel in seiner Hand. Ergab Sinn. Wir standen auf dem obersten Deck des Parkhauses. Wahrscheinlich war es ein merkwürdiger Zufall gewesen, dass er seine Karre hier geparkt hatte. Mir fiel auf, dass tatsächlich ein einziges Auto dort stand. Rot und vermutlich älter als er selbst. Ganz oben, wo sonst niemand parkte, weil der Weg schlicht und einfach zu weit war.
Der schnurrbärtige Mann beugte sich etwas über die Mauer. Ich zuckte erneut zusammen, als er plötzlich anfing zu schreien. Laut und ehrlich rief er seinen eigenen Frust in die Dunkelheit. Sein herzhaftes Gebrüll ließ meine Tränen trocknen. Ich stimmte mit ein, schrie mit ihm gemeinsam. Uns beschäftigten wohl so völlig verschiedene Dinge. Aber es war egal, was uns da oben stehen und schreien ließ. Denn es tat gut. Mir tat es gut mit einem völlig fremden Kerl dort zu sein. Auf dem Parkhaus mitten in der Nacht.
Unsere Blicke trafen sich, als wir aufhörten. Alles war still. Mein Herz schlug wie wild. Fast hätte ich vergessen, wie es sich anfühlte, wenn das Adrenalin durch meinen Körper strömte, ohne betrunken zu sein. Wie es sich anfühlte, wenn mein Herz hämmerte, ohne betrunken zu sein. Es war noch da. Dort in meiner Brust und wider Erwarten lebte es noch. Wir fingen an zu lachen. Einfach so. Weil es genau das richtige war, in diesem Moment. Es war das richtige für eine verletzte Seele. Oder zwei. Lautes und aufrichtiges Lachen, weil diese Situation so absurd war. Absurd, aber gut. Wichtig.
„Oh Shit...!", kam es aufgebracht von meinem Gegenüber. Man hörte ihm dennoch an, dass er noch nicht ganz mit dem Gegacker aufhören konnte.
„Was ist passiert?" Auch mir hing das Glucksen noch in der Brust wie Schluckauf.
Er hängte sich gefährlich weit über die Mauer und sah nach unten. „Ich hab meinen Schlüssel fallen lassen..."
„Echt jetzt?" Ich beugte mich ebenfalls über die Brüstung. Als würde es überhaupt was bringen. Immerhin war es dunkel und von ganz oben hätte man seinen Schlüssel eh nicht erkennen können.
„Den finde ich nie wieder!", rief die tiefe Stimme, gefolgt von einem Lachen. „Scheiße."
„Doch, bestimmt!" Ich wusste nicht, woher mein Optimismus kam. Ich war nie optimistisch. „Komm, wir gehen suchen." Schnell sammelte ich meinen Kram vom Boden auf, ehe wir gemeinsam das Treppenhaus hinunter joggten, um seinen Autoschlüssel zu suchen.
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Niemand [boyxboy]
RomanceEin Niemand. So wird er von anderen behandelt. Und so behandelt er sich vor allem selbst. Denn er ist ein Niemand. Nic Niemand. Sein Nachname bestimmt sein ganzes Leben, bis ein Mensch in sein Leben tritt, der ihm zeigt, dass er ein Jemand ist.