Harte Worte

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Ich setzte mich hin, stand wieder auf, wanderte umher und setzte mich wieder hin, um dann erneut aufzustehen und umherzuwandern. Mein Kopf war wirr. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte einfach kein vernünftiges Gespräch zusammenbauen. Wie sollte ich anfangen? Was war am wichtigsten? Was wollte ich ihr überhaupt sagen? Wie fühlte ich mich? Ich hatte beschlossen, endlich mit ihr zu reden. Nach so langer Zeit, diesen Streit aus dem Weg zu räumen. Nur fehlten mir noch immer die richtigen Worte und das machte mich fertig.

„Oh mein Gott, Nicolai!" Er brüllte so laut, wie damals auf dem Parkhausdach. „Nicolai Niemand!" Er packte mich grob am Kragen und schubste mich etwas zu aggressiv auf seine Couch. Dieses wütende Funkeln in seinen Augen hatte ich erst selten gesehen. Es machte mir etwas Angst. „Kannst du... bitte...! Bitte mal stillsitzen", stieß er schnaubend zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das nervt! Das nervt, das nervt, das neeeerrrvt!" Raffa hielt noch immer meinen Kragen, während er merkwürdig auf meinem Schoß kniete und an mir rüttelte. „Du gehst mir auf den Sack. Ehrlich! Ich versuche hier etwas zu erledigen und du rennst rum wie ein aufgestochenes Hühnchen! Von diesem Gemurmel mal ganz abgesehen. Renn einmal um den Block oder was weiß ich. Leg dich schlafen, wie sonst auch immer! Aber geh mir nicht auf die Nerven."

Ich konnte nicht anders, als ihn einfach nur anzustarren. Er hatte mich noch nie so angeschrien. So ernsthaft und wütend. Ich musste ihn wirklich auf die Palme gebracht haben. Natürlich. Das tat ich doch immer. Leute nerven. Sie belästigen. Sie von ihrer Arbeit abhalten oder von anderen wichtigen Dingen. Ich war ein Klotz am Bein. Wie ein kleines Kind brachte ich alle um mich herum zum durchdrehen.

„Mann!" Er stieß mich in die Rückenlehne und ließ meinen Kragen los. Aufstehen tat er jedoch nicht. „Oder sprich wenigstens mit mir. Erzähl mir, was dir diesmal den Kopf zerbricht."

Ich presste meine Lippen aufeinander, wandte den Blick ab, da ich seinem wütenden nicht länger standhielt. „Ich... sollte dich nicht weiter nerven...", murmelte ich und wollte ihn von meinem Schoß schieben.

Raffaele blieb jedoch stur auf mir sitzen. „Aha." Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Jetzt auf einmal?"

„Geh runter von mir", brummte ich.

„Nein, du sprichst jetzt mit mir. Sieh mich an."

Ich schüttelte den Kopf.

„Sieh mich an!" Es war gruselig, wenn er so laut wurde.

Eingeschüchtert sah ich ihm in die Augen.

„Jetzt erzähl mir bitte was los ist."

„Ich nerv dich doch schon genug! Offensichtlich... So wie ich es bei allen mache. Alle haben mich irgendwann satt. Du wirst mich auch bald satt haben. Ganz bestimmt..."

„Nur, weil ich dir gerade gesagt hab, du sollst mir nicht auf den Sack gehen?"

Wieder wich ich ihm aus, versuchte erneut, ihn von mir zu schieben. War er schon immer so schwer?

„Würde ich dir nicht auf den Keks gehen, wenn ich Stunde um Stunde aufstehe, rumrenne, mich hinsetze und wieder aufstehe und rumrenne und immer so weiter?", fragte er mich. „Das nervt. Natürlich nervt das."

„Siehst du?"

Wütend packte er mein Kinn, sodass ich ihn ansehen musste. „Aber ich werde niemals die Schnauze voll haben von dir."

„Doch, wirst du ganz sicher." Ich schlug seine Hand weg. „Jeder hat mich bisher verlassen! Keiner hat es je lange mit mir ausgehalten. Bin ich wirklich so schrecklich? Anscheinend! Ich muss ja so ätzend sein, wenn sich alle von mir abwenden. Wer will schon was mit so einem Typen zu tun haben? Mit einer Heulsuse, die sich immer nur streitet? Mit einem Weichei, das sich nicht entschuldigen kann. Sogar ein verschissenes Danke fällt mir schwer! Mit einem Nichtsnutz, der gar nichts geschissen bekommt? Ich bin ein Nichts. Ein Niemand! Keiner will etwas mit einem Niemand zu tun haben. Ich will es ja selbst nicht!" Meine Stimme brach und hörte sich schrill an. Es fühlte sich an wie der nächste Zusammenbruch. Was war nur los mit mir? Meiner Kehle entwich ein jämmerliches Schluchzen. Da waren sie wieder. Diese bescheuerten Tränen. Ich hasste es. Ich hasste es so sehr, ich zu sein. Ein Nichts, ein Niemand zu sein. Ich hasste mich.

Der Italiener packte erneut meinen Kopf. Diesmal mit beiden Händen, sodass es kein Entkommen gab. „Ja, du bist ein verdammter Feigling. Und du bist miserabel darin, über Dinge zu sprechen. Über Gefühle und alles was dazu gehört. Du bist unglaublich verpeilt und zerstreut. Ich verstehe deine Gedanken nicht. Die machen tausend Umwege und kommen dann erst ans Ziel. Du bist so unberechenbar wie du berechenbar bist. Es ergibt keinen Sinn, aber so ist es eben. Du bist ein offenes Buch, aber lesen kann man dich trotzdem nicht wirklich. Ja, du bist eine jämmerliche Heulsuse! Ein Weichei, das immer gleich flennt. Aber das ist okay!" Seine Daumen strichen meine Tränen weg. „Und hör mir zu..." Sein Blick wurde wesentlich sanfter, genau wie seine Stimme. „Du bist mit all deinen Ecken und Kanten ein unglaubliches Wesen. Du bringst Menschen zum Lachen und kümmerst dich um sie, auch wenn sie nicht danach gefragt haben. Du bist liebenswert, auch mit all dem Moos in deinen Kopf. Ich mag es, dass du Gefühle hast und man dir ansieht, dass sie da sind. Dass du kein kalter Stein bist, der sich einen Scheiß interessiert. Es ist süß, dass du so viel schläfst, wenn du dich wohl fühlst. Ich bin unglaublich gern in deiner Nähe und ich bin mir sicher, dass es anderen genauso geht. Du tust anderen gut und hilfst ihnen. Du bist kein Nichtsnutz. Nilo, du bist wichtig. Wichtig für deine Familie. Für Marco, wie ich denke. Für mich. Du bist wichtig für dich selbst. Sieh es endlich. Sieh dich. Erkenne, dass du kein Nichts bist. Erkenne, wie wertvoll du bist. Dein Leben, dein Sein. Du bist so viel mehr als dein Nachname. Vielleicht heißt du Niemand. Aber du bist kein Niemand. Nicht für mich oder irgendwen anderes, dem du etwas bedeutest. Nicolai, du bist ein Jemand. Ein Jemand wie jeder andere auf der Welt auch. Wann merkst du das endlich?" Er streichelte mir durch die wilden Haare. „Oder muss ich dich erst heiraten und deinen Namen tragen, damit du checkst, dass der Name nichts aussagt?"

Ich musste lachen, zog die Nase hoch. Der Gedanke, ihn zu heiraten, ließ es in mir flattern. Dieses Drücken von vorhin war wie weggefegt. Seine harten aber auch lieben Worte haben den Knoten in meiner Brust gelöst. Seufzend lehnte ich meine Stirn an seine. „Danke...", hauchte ich. Es fiel mir schwer, es auszusprechen. Aber es war wichtig. Genau wie die Entschuldigung, auf die meine Mutter bereits so lange wartete. „Kannst du noch ein bisschen weiter reden...?"

Glucksend schlang er seine Arme um meinen Nacken und schaukelte uns ein wenig hin und her. „Hmm... du kannst toll kochen. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich schon verhungert. Du... bist unglaublich attraktiv. Hübsches Gesicht, schöner Körper. Du bist echt sexy. Ich mag, wie du aussiehst. Sehr. Sogar deine ollen weißen T-Shirts und verwaschenen Jeans machen mich an, obwohl es das wohl langweiligste Outfit aller Zeiten ist." Ich lauschte seiner Stimme, genoss es einfach, dass jemand so gute Dinge über mich sagte, während ich selbst immer nur die schlechten sah. „Oh und du hast tolle Lippen." Er hauchte Küsse drauf. Ganz sanft. „Deine Hände sind magisch. Und du bist unglaublich gut im Bett..."

Ich musste lachen, schob seinen Kopf von mir. „Okay, das reicht!"

Grinsend griff er an meine roten Ohren. „Sogar deinen Schwanz finde ich schön. Von deinem Arsch ganz zu schweigen..."

„Stopp!!" Ich hielt ihm grinsend den Mund zu. „Stopp... Ich glaub, es ist angekommen."

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt