Alltag

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Seit Stunden hatte Raffaele sich kaum einen Zentimeter bewegt. Nur seine Hand huschte über das Papier und griff immer mal wieder nach einem neuen Stift, dessen Kappe er sich zwischen die Zähne klemmte, da auf der anderen Hand sein Kopf ruhte. Der Mann war so sehr in seiner Welt versunken, dass er wahrscheinlich gar nicht bemerkte, wie ungesund seine Haltung war. Aber so saß er immer dort. Auf dem Dielenboden mitten in seinem chaotischen Wohnzimmer. Im Schneidersitz. Oberkörper vorgebeugt und den Ellenbogen auf den Holz gestützt. Auf der Hand lag sein Kinn. Dort hockte er Stunde um Stunde um Stunde. Barfuß, ohne Strümpfe. Eine dunkle Jeans und irgendein Hemd, das ihm nach dem Duschen über den Weg gelaufen war. Meistens machte er sich nicht einmal die Mühe, es zuzuknöpfen. Durchs Vorbeugen rutschte es etwas hoch und legte seine hübsche Haut frei. Seinen unteren Rücken und manchmal sogar seine Poritze. Bei jedem anderen hätte ich es wohl abstoßend gefunden.

Raffaele versuchte den Stift in seinen Fingern wieder in die Kappe zu stecken, die er mit den Lippen umschlossen hielt, und bemalte sich versehentlich dabei. Ich war mir nicht sicher, ob es ihm überhaupt auffiel. Es hätte eine Bombe neben ihm einschlagen können, er hätte es nicht bemerkt. Ich fand es faszinierend, wie sehr er in seiner Arbeit versank. Und wie wunderschön er dabei aussah. Seine frisch gewaschenen Haare, die in der Nachmittagssonne schimmerten. Sie rochen ganz sicher noch nach seinem Shampoo.

Gähnend riss ich das erste Mal, nachdem ich von meinem Schläfchen aufgewacht war, meinen Blick von der Schönheit los. Wenn ich bei ihm war, war ich die Ruhe selbst. Ich fühlte mich so unglaublich wohl, dass ich augenblicklich einschlafen konnte, sobald ich in seiner Nähe war. So war es auch bei Marco, wenn ich nicht zu aufgedreht war.

Mein Blick fiel auf die Uhr. „Raffa...?" Müde rieb ich mir über die Augen. „Hey!"

Der Student reagierte nicht. Seufzend rappelte ich mich von seiner Couch auf und schlich zu ihm rüber. „Hey..." Sanft legte ich meine Hand auf seinen Kopf. „Du solltest was essen und dich dann aufs Ohr hauen." Mir war aufgefallen, dass er häufig vergaß zu essen und viel zu wenig schlief. Deshalb kümmerte ich mich ein wenig um ihn.

„Gleich..."

„Worauf hast du Hunger? Ich mach dir was." Ich hatte mich neben ihn gehockt, legte mein Kinn auf meine Knie. Da Raffaele nicht kochen konnte, ernährte er sich fast ausschließlich von Fertiggerichten oder Toastbrot, wenn er doch daran dachte, etwas zu futtern.

„Weiß nicht." Noch immer war er etwas abwesend.

Schmunzelnd zupfte ich mir ein paar Fäden von den Socken, die überall in der Wohnung herumlagen, nachdem der Designer etwas zusammengeschneidert hatte. „Hm... ich mach dir Nudeln. Okay?"

„Hmmh..."

Ich betrachtete noch ein wenig seinen Schnurrbart, den ich kein bisschen mehr hässlich fand, ehe ich mich erhob und uns etwas zu Essen machte.

Erst als ich ihm die Schüssel mit den Nudeln vor die Nase hielt, kehrte er ins Diesseits zurück. Wie immer wurde er dann von der Müdigkeit überrollt. Er aß brav seine Portion auf und verschwand danach direkt ins Bett, um nach ein paar Stunden seinen Tag erneut mit einer Nachtschicht an der Tankstelle zu beginnen.

Nachtschicht, Frühstück, Uni, Hausarbeit und eigenen Projekte, essen und ins Bett. Das war sein Alltag. Anders als der von den Menschen, die ich sonst kannte. Aber ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, dass ich meinen Alltag an den seinen angepasst hatte. Wenn er arbeiten war, lag ich daheim in meinem Bett und schlief. Frühstücken taten wir meistens gemeinsam, bevor wir zur Uni und in die Schule gingen. Danach verbrachten wir den Nachmittag zusammen, wobei ich meistens pennte und er an seinem Kram arbeitete. Wenn er im Bett lag, machte ich den Abwasch und lernte für die Schule. Ich brachte ihn zur Arbeit und ging dann selbst ins Bett. Tage, an denen das nicht so war, fühlten sich inzwischen sogar merkwürdig an.

Ich genoss jede Sekunde mit diesem Mann. Jedes Gespräch. Jedes Beobachten. Es war ein wenig so, als wäre er mein Zuhause geworden.

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt