Sorgen

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„Ich muss aufräumen..." Gähnend rieb ich mir über das Gesicht. Es war mitten in der Nacht. Seit Stunden hockten Marco, seine Katzen und ich in meinem Bett und schauten meine Lieblingsserie.

Auch der ältere schien müde zu werden. „Hm... ist doch recht aufgeräumt?"

Ich stöhnte etwas genervt auf. „Nicht mein Zimmer." Ich rutschte etwas nach unten und starrte auf den Bildschirm meines Laptops, wo noch immer die Sendung lief. „Ich muss mein Leben aufräumen. Meinen Kopf. Meine Gedanken. Meine Gefühle. Ich muss mich selbst aufräumen."

Er drehte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf, um mich besser ansehen zu können. „Das klingt nach 'nem Plan."

„Ich weiß aber nicht wo ich anfangen soll. Mein Plan ist für'n Arsch."

„Was ist dir denn am wichtigsten?"

Ich kraulte eine der Katzen unterm Kinn. Wie gut, dass die beiden so viel Aufmerksamkeit gewohnt waren. Sonst hätten sie sich längst verpieselt. „Das weiß ich nicht. Ich finde alles wichtig."

„Was sind denn die Dinge, die du in Ordnung bringen möchtest?"

Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, um meine Gedanken zu sortieren. „Ich muss unbedingt mit Mama reden." Ich sah meinen besten Freund an. „Es ist schrecklich, ihr aus dem Weg zu gehen. Ich tu ihr weh und das ganz bewusst. Das ist grausam. Außerdem fehlt sie mir... Aber ich weiß nicht, wie ich ihr das sagen soll. Also... es gibt da so viel, das geklärt werden muss zwischen uns. Wo fange ich da an? Wie schaffe ich es, an alles zu denken? Wie bekomme ich es hin, ihr die Wahrheit zu sagen, ohne sie wieder so anzuschreien? Wie vermeide ich es, zu heulen wie ein Schlosshund?"

„Erstens: es ist völlig in Ordnung, zu weinen. Das weißt du. Auch Jungs und Männer dürfen heulen. Jeder darf heulen. Schließlich hat auch jeder Gefühle. Die müssen eben irgendwie raus und wenn es bei dir Tränen sind, dann ist es eben so. Außerdem wird deine Mutter mit Sicherheit auch weinen. Das bleibt bei so einem Gespräch wahrscheinlich auch nicht aus, hm?" Er strich mir eine Locke aus der Stirn. „Lass das Gespräch einfach laufen, wie es kommt. Selbst wenn du etwas vergisst, dann sprich es beim nächsten Mal an. Es ist wichtig, dass ihr einander zuhört. Sie dir. Aber du auch ihr. Ich kann mir vorstellen, dass ihr auch einiges auf dem Herzen liegt, was sie dir gern sagen möchte."

„Wo fange ich an?"

„Das kann ich dir nicht beantworten. Hör auf dein Bauchgefühl."

„Was ist, wenn ich mich nicht entschuldigen kann?" Meine Stimme zitterte. Es fiel mir unglaublich schwer, über Dinge zu reden, die wichtig waren.

„Es müssen nicht immer Worte sein. Ihr findet einen Weg, einander zu verstehen. Das habt ihr immer getan."

„Was, wenn nicht?"

„Nics, ich weiß, dass das schwer ist. Aber versuch, nicht alles kaputt zu denken. Denken ist gut. Zu viel denken kann einen verrückt machen. Ich weiß, wovon ich rede."

„Wann ist der richtige Moment?"

„Das musst du selber wissen. Vielleicht solltest du dir allerdings nicht zu lange Zeit lassen, hm?"

Ich nickte leicht, betrachtete die Blondine auf dem Bildschirm. Obwohl wir eine Weile schwiegen, konnte ich mich nicht auf die Folge konzentrieren. Es schien mir immer mehr im Hirn herumzuwirbeln. Allerdings merkte ich, dass es wirklich guttat, meine Sorgen auszusprechen. „Nerv ich dich auch nicht...?

Der bärtige Kerl schenkte mir ein Lächeln. „Und wenn schon. Ich möchte, dass es dir besser geht. Dafür würde ich alles tun, was in meiner Macht steht."

Es erwärmte mir immer wieder das Herz, wenn er solche lieben Worte sagte. Ich war froh darüber, ihn an meiner Seite zu wissen. Auch, wenn manches, was er sagte, nichts besser machte. Er hörte mir zu und gab mir die Zeit, die ich brauchte. Er war da. An meiner Seite, wo er bereits mein Leben lang gewesen war und auch hoffentlich noch ewig bleiben würde. „Weißt du... alle anderen wissen genau, was sie mal machen wollen. Ihre Ziele im Leben. Keine Ahnung. Traumjob, heiraten, Haus, Kinder. Weiß ich nicht. Sie wissen, dass sie viel reisen wollen und planen schon. Alle wurden an irgendwelchen Unis angenommen oder haben Jobzusagen. Ich..." Erschöpft fuhr ich mir über das Gesicht. Meine Augen brannten und ich fühlte mich ein wenig warm an. „Ich hab keine Ahnung, was ich machen möchte. Wo ich hin möchte. Ich weiß nicht, was meine Ziele sind. Worauf kann ich hinarbeiten? Ich mache demnächst meine Prüfungen und dann ist die Schule vorbei. Ich wusste es genau und trotzdem kommt es so... unglaublich plötzlich, weißt du? Es macht mir Angst, nicht zu wissen, was dann passiert. Es macht mich fertig Leute wie Raffaele zu sehen, die für eine Sache brennen. Oder wie du. Du hast deine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Es bereitet dir Freude. Du hast... Etwas. Es macht mich fertig. Meine Zukunft scheint einfach nur ein schwarzes Loch zu sein. Es saugt mich mit aller Kraft an. Aber da ist Nichts. Rein gar nichts."

Marco betrachtete mich nachdenklich. Kurz hatte ich Panik, er würde gar nichts mehr sagen wollen. Dass ich ihm wirklich auf den Sack ging. Dass er aufstand und ging, weil ich so jämmerlich war. „Glaub mir, wenn ich dir sage, dass sich ganz sicher viele Menschen so fühlen. So oder so ähnlich. Auch völlig egal, wie alt sie sind. Irgendwann fängt man an, sich die Frage zu stellen, was das alles für einen Sinn hat. Wofür mache ich das ganze? Wo möchte ich hin?" Er strich sich durch den Bart. Man sah, wie es in seinem Kopf rotierte. „Ich weiß, dass... dass es nicht wirklich besser wird, wenn man weiß, dass es anderen auch so geht. Und dir wird Keiner die Entscheidungen in deinem Leben abnehmen können. Oder besser, du solltest sie dir nicht abnehmen lassen. Das macht nämlich nicht glücklich. Irgendwie musst du deinen eigenen Weg finden. Du muss selbst entscheiden, ob du gelb oder blau lieber magst. Ob du die Straße überquerst oder auf dieser Seite bleibst. Nimmst du die Ampel oder den Zebrastreifen?" Ich wusste nicht, wie lang er mich einfach nur ansah und erneut nichts sagte, ehe er fortsetzte. „Du bist jung, Nics. Und auch wenn du älter wirst, ist es völlig okay, nicht zu wissen, was du willst. Probier herum. Schnuppere in Berufe, von denen du noch nie gehört hast, oder auf die du gerade in diesem Moment Lust hast. Lerne Menschen kennen, die du interessant findest und, wenn sie dir nicht guttun, dreh dich einfach um und geh. Das Leben ist zu kurz, um auf der Stelle zu stehen. Was bringt dir der beste Plan, wenn du irgendwann zu alt bist, um ihn umzusetzen? Du kannst nichts verlieren. Nicht wirklich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das klingt alles leichter, als es ist, das ist mir klar. Aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass du es bereuen wirst, nichts ausprobiert zu haben. Wenn du zu lang auf einem Fleck stehst, der dich nicht glücklich macht. Wenn dich der Fleck erfüllt und dir Freude bereitet, dann bau ein Haus drauf. Keine Ahnung. Ansonsten zieh weiter und probier das nächste aus. Es muss nichts sein, was total aufregend ist. Manchmal reicht es auch, einen neuen Schokoriegel zu probieren, statt immer die gleichen zu essen." Er hielt eine leere Verpackung hoch und lachte. „Entweder du bleibst beim Alten oder der neue haut dich total aus den Socken. Das weißt du erst, wenn du das probiert hast." Er stupste meine Nase an. „Mach nicht den gleichen Fehler wie ich und warte zu lange, bis du etwas neues wagst. Bis du etwas Schlechtem den Rücken kehrst. Lass die Angst nicht dein Leben bestimmen. Du musst nicht immer mutig sein. Aber glaub mir, es ist schön, mal einen Schritt in die Sonne zu treten, statt immer nur im Schatten zu stehen."

Seine vielen Worte wollten verarbeitet werden und gleichzeitig breitete sich diese Euphorie in mir aus. Dieser Drang, etwas anzupacken. Mich zu bewegen. Vorwärts. Dem Horizont entgegen, egal, was er mir zu bieten hatte.

„Wäre es ein Schritt in die Sonne, Raffaele zu sagen, dass ich mich in ihn verliebt habe...?"

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt