„Na wo kommst du denn so spät noch her?" Marco stellte den Laptop von seinem Schoß auf den Couchtisch, als ich mich über die Lehne des Sofas zu ihm warf.
„Hab jemanden zur Arbeit begleitet."
„Um diese Uhrzeit?"
„Nachtschicht eben." Ich zuckte mit den Schultern. Raffaele fing immer erst um diese Uhrzeit mit seiner Arbeit in der Tankstelle an. Dass ich so spät erst bei Marco aufkreuzte war allerdings keine Seltenheit. Besonders seit ich meiner Ma aus dem Weg ging.
„Und wen hast du zur Arbeit begleitet?"
„Jemanden."
„Jemanden?" Mein bester Freund zog schmunzelnd die Augenbraue hoch.
„Jap." Ich griff mir seinen Teller, auf dem die kalten Reste seines Abendessens lagen.
Der fast 60-Jährige knuffte mir in die Seite. „Mann, erzähl doch!"
Ich konnte mein Pokerface nicht weiter bewahren. Dieses verräterische Grinsen. Obwohl ich mein Gesicht wegdrehte, wusste ich, dass er es bemerkt hatte.
„Hah! Wusste ich es doch!"
„Was wusstest du?", fragte ich. Natürlich wusste ich, wovon er sprach. Für ihn war ich ein offenes Buch. Und das schon mein ganzes Leben lang. Er kannte mich besser als jeder andere Mensch auf der Welt.
Der vollbärtige Mann griff an mein rotes Ohr. „Du verheimlichst mir was, Nics. Rück schon raus mit der Sprache."
„Nein!", rief ich und stopfte mir ein paar Nudeln in den Mund.
„Aber dein alter Freund ist neugierig!"
Ich schüttelte wild mit vollem Mund den Kopf und stopfte mir noch eine Ladung hinterher. Nur leider war es der Rest vom Teller und Marco hatte so viel Geduld, bis ich aufgekauft hatte.
„Also?" Er verschränkte grinsend die Arme vor der Brust.
„Wir sind nur Freunde!", rief ich, als müsse ich mich irgendwie verteidigen.
„Hab ich je etwas anderes behauptet?"
Ich zuckte mit den Schultern und stellte den Teller weg.
„Komm schon, Nics. Ich kenn dich. Du bist in letzter Zeit so aufgekratzt. Und das ist wirklich schön, nachdem du Monate lang ein Trauerkloß warst. Aber das ist nicht dein Normalzustand. Du bist zu aufgewühlt, um deine berühmten Nickerchen zu machen. Du sabbelst mir eine Kartoffel ans Ohr. Ach und du hörst diese bestimmte Playlist rauf und runter. Du bist viel unterwegs. Also ich gehe ja mal davon aus, denn du meidest dein Zuhause im Moment. Hier bist du dann allerdings auch nicht. Und du..."
„Stopp!", brüllte ich ihm entgegen, wonach mir allerdings ein peinliches Glucksen aus der Kehle entschwand. „Aufhören. Du hörst dich an wie ein Stalker."
„Ich kenne einfach nur deine Angewohnheiten." Marco beugte sich vor und stützte sich auf meine angewinkelten Knie. „Möchtest du mir von ihr erzählen?"
Ich zögerte. Kurz blieben mir meine Worte im Halse stecken, weshalb ich mich leise räusperte. „Wer hat denn gesagt, dass es ein Mädchen ist?" Die Stimme klang höher als beabsichtig. Noch so ein Verräter.
Das Grinsen meines Freundes wurde noch breiter. „Achso?"
Ich warf meinen Kopf auf die Rückenlehne, um seinem Blick nicht weiter standhalten zu müssen.
„Versteh mich nicht falsch! Aber du hast eben nie sowas erwähnt, dass das auch eine Option wäre."
„Heyheyhey!" Ich drückte meine Finger auf seine Stirn und stieß ihn sanft von mir, damit er nicht mehr so auf meine Pelle rückte. „Langsam!"
„Was denn?"
„Wie bereits gesagt. Wir sind nur Freunde. Und wir reden jetzt nicht über irgendwelche Optionen."
„Okay." Der alte Mann setzte sich wieder ordentlich hin. „Und wie ist... er so? Dein einfach nur Freund?"
„Nett."
„Nett ist die kleine Schwester vom Arschloch. Komm schon."
„Okay!" Ich rieb mir über die Stirn und schnaubte. „Er heißt Raffaele. Und er ist wirklich ein toller Mensch, okay? Wir treffen uns zum lernen. Also er geht zur Uni. Aber es tut gut, wenn jemand dabei sitzt, der auch so Kram machen muss. Das motiviert mich mehr, als es allein zu machen. Und ich begleite ihn eben manchmal zur Arbeit. Es ist einfach angenehm, Zeit mit ihm zu verbringen, okay?"
„Okay." Der alte Mann schenkte mir ein liebevolles Lächeln. „Das ist doch wirklich schön."
„Ist es." Er wusste, dass meine Freunde aus der Schule nicht wirklich meine Freunde waren. Wir hingen am Vormittag rum, damit keiner allein in der Pausenhalle hocken musste. Wir gingen mal zusammen saufen. Aber dann hörte es eben auch schon auf. Im Grunde taten wir alle nur so, als wären wir wirklich befreundet. Eigentlich waren wir uns einander völlig egal. Nach der Schule würden sich unsere Wege sowieso trennen.
„Hey."
Ich sah Marco an, fummelte am Saum meines Shirts herum.
„Es ist wirklich schön, dass du jemanden gefunden hast, den du wirklich einen Freund nennst." Er warf seine imaginären langen Haare über die Schulter. „Außer mir natürlich."
Er entlockte mir ein Lachen. „Du bist ja auch eine ganz andere Nummer."
„Na die Nummer eins, wie ich hoffe!"
„Du wirst immer meine Nummer eins bleiben, alter Mann." Er war immerhin etwas ganz besonderes. Ein Schutzengel. Ein Lebensbegleiter. Die gute Seele. Meine bessere Hälfte. Mein Zuhörer und Kummerkasten. Mein Zufluchtsort. Mein Zuhause. Mein Seelenverwandter. Das zwischen uns war nichts vergängliches. Ich brauchte ihn mehr als alles andere auf der Welt. Er war mein bester Freund. Den konnte nichts ersetzen.
„Und du immer meine, Nics." Er wuschelte mir durch die blonden Locken.
„Du...?"
„Ja, Kleiner?"
„Ich mag ihn echt."
„Das ist wirklich schön."
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Niemand [boyxboy]
RomanceEin Niemand. So wird er von anderen behandelt. Und so behandelt er sich vor allem selbst. Denn er ist ein Niemand. Nic Niemand. Sein Nachname bestimmt sein ganzes Leben, bis ein Mensch in sein Leben tritt, der ihm zeigt, dass er ein Jemand ist.