Flüchten

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Wir starrten einander in die blauen Augen, die wir beide von unserer Mutter hatten. Genau wie die blonden Haare. Nur, dass seine nicht so wild waren. Der Knirps hatte seine Hände in die Hüften gestemmt und versperrte mir den Weg zur Haustür. Ich stieg die letzten Stufen der Treppe hinab. „Verpiss dich, Leo."

„Nein!" Er versuchte sich noch größer und breiter zu machen. Allerdings war er wirklich winzig und ich eben ziemlich groß. Immerhin war er zehn Jahre jünger als ich.

„Doch!"

„Nein!" Er zog streng die Augenbrauen zusammen. „Erst redest du mit Mama!"

Natürlich war mir klar, dass mein kleiner Bruder das mitbekommen hatte. Und ich konnte mir sehr gut denken, dass es ihm nicht gefiel, dass dieser Streit noch immer in der Luft hing. „Nerv mich nicht, Leo", stöhnte ich genervt auf.

„Nici, bitte..."

Ich presste die Lippen aufeinander, traute mich nicht, mich zu ihr umzudrehen.

„Lass uns das endlich aus dem Weg schaffen. Ich bitte dich!" Ihre Stimme zitterte. Ich wusste, dass sie sich die Tränen zurückhielt. Auch ein Grund, wieso ich sie nicht ansehen wollte. Denn dann hätte ich ebenfalls weinen müssen.

War ich schon bereit? Wusste ich, was ich ihr sagen wollte? Wenn ich jetzt mit ihr reden würde, dann kam ich zu spät, um Raffaele am Bahnhof abzuholen. Ich wusste, dass das Gespräch mit ihr länger dauern würde. Es musste länger dauern. Die letzten Jahre ließen sich nicht in fünf Minuten quetschen. Gefühle redeten sich nicht so schnell von der Seele. Die Wahrheit brauchte ihre Zeit. Und es war wichtig. Es war wichtig, dass wir ehrlich miteinander waren und über alles sprachen. Über jede Sorge. Jeden Stein, der irgendwie zwischen uns lag. Über die Mauer, die wir beide gebaut hatten. Jeder von seiner Seite. Stein um Stein musste diese Mauer wieder abgetragen werden. Gemeinsam. Das war nichts, was ganz schnell zwischen Tür und Angel passierte. Passieren durfte. So ein flüchtiges Gespräch würde keinem etwas nützen.

Ohne meine Mutter ein einziges Mal anzusehen, packte ich meinen kleinen Bruder unter den Achseln und hob ihn auf meine andere Seite, sodass er mir nicht mehr den Weg versperrte. „Das ist unfair!"

„Das ganze scheiß Leben ist unfair", brummte ich und zog die Haustür auf.

„Nicolai...!" Sie weinte. Ich wusste, dass sie es tat. Es zerriss mir meine Organe. Alles drehte sich um und verknotete sich.

Einen winziges Augenblick sah ich zu der kleinen Frau, die in der Küchentür stand. Ich verletzte sie immer mehr. Je länger ich mich von ihr fern hielt, desto tiefer stieß ich das Messer in ihre Brust.

Ich biss die Zähne zusammen und schloss die Tür hinter mir, ehe ich mich auf mein Rad schwang und zum Bahnhof fuhr.

Mal wieder lief ich vor meinen Problemen weg. Das konnte ich ja sowieso am besten.

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt