Der Schlüssel

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„Solltest du nicht lieber mal mit deiner Mutter reden, statt hier im Gebüsch herumzuwühlen?" Marco schob seine Fischermütze zurecht. „Was suchst du denn überhaupt?"

„Ich hab's bestimmt gleich..." Es war klar, dass wir den Autoschlüssel im Dunkeln nicht gefunden hatten. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Schließlich hätte der Typ seinen Schlüssel nicht verloren, wenn ich nicht dort oben gestanden hätte. Seit wann ich etwas tat, wozu mich mein Gewissen drängte, war mir allerdings unbekannt. Denn wie angesprochen, hatte ich noch immer nicht mit meiner Mutter gesprochen.

„Wenn du mir sagst, wonach wir suchen, kann ich dir helfen", warf der fast 60-Jährige ein.

„Ich hab's gleich." Ich wiederholte mich.

„Aha. Das hast du schon vor zehn Minuten gesagt, mein Freund."

Ich hob meinen Kopf und hielt dem Mann meinen Mittelfinger hin. Diesen Anblick nahm er wohl als Anlass ein Foto zu schießen. Marco war Fotograf. So ganz nebenbei und natürlich beruflich. Eigentlich trug er immer seine Kamera mit sich herum. Ich wurde schon mein ganzes Leben lang von ihm fotografiert und es störte mich nicht, es war ganz einfach normal. Außerdem hatte ich Dank ihm ein wunderbar volles Kinderfotoalbum. Oder mehrere.

„Toll. Das kannst du auf Instagram posten. Dann sieht jeder, was für ein mieser Kerl du bist." Der Vollbart kicherte vor sich hin. „Kommt gut mit der gebrochenen Nase."

„Halt's Maul, alter Mann." Ich setzte meine Suche fort. Und tatsächlich stach mir ein roter Puschel ins Auge. „Hah!", rief ich und fischte den Anhänger samt Schlüssel aus dem Gebüsch vor dem Parkhaus. „Ich hab doch gesagt, dass ich ihn gleich hab!"

„Du hast gar kein Auto." Die Beobachtungsgabe meines besten Freundes war wirklich erstaunlich. Sowas offensichtliches zu erkennen, war nicht jeden gegönnt.

„Natürlich hab ich kein Auto. Ich hab nicht mal einen Führerschein." Ich verstaute den Schlüssel in meiner Jackentasche, warf Marco einen dummen Blick zu.

„Und wieso angelst du dann Autoschlüssel?"

„Das ist nicht meiner." Vielleicht war ich nicht besser als er, was meine Intelligenz anbelangte. Fremde würden wahrscheinlich auch denken, sie seien auf geballte Dummheit gestoßen, wenn sie unsere unglaublich schlauen Gespräche aufschnappten.

„Das ist mir schon klar."

„Letztens war ich oben auf dem Parkhausdach. Was heißt letztens? Gestern oder so. Jedenfalls kam da dieser Typ und wir standen da und er hat das Teil fallen lassen. Wir haben's nicht gefunden, weil es dunkel war. Es schien ihn auch nicht groß zu jucken irgendwie..."

„Wenn's ihn nicht juckt, wieso kriechst du denn für ihn im Dreck rum?"

Gute Frage. Ich starrte meinen besten Freund wortlos an, ehe ich einfach nur mit den Schultern zuckte. Ich wusste es nicht. Wenn es nicht einmal den Besitzer den Autos kratze, hätte es mich noch weniger zu kratzen, ob die Karre nun für ewig dort oben auf dem Parkdeck stehen würde oder nicht.

„Wem gehört er denn?"

Ich öffnete meinen Mund, um ihm zu antworten, musste ihn aber wieder schließen. Auch das war eine gute Frage. Ich kannte seinen Namen nicht. Im Grunde wusste ich nicht, wer er war. „Keine Ahnung..." Ich hätte Marco sagen können, dass es der Typ von der Tankstelle ist, aber ich tat es nicht. Meine Finger umklammerten den Anhänger in meiner Jackentasche.

„Freak." Mein bester Freund lachte auf. „Komm, Lust auf Kuchen?"

„Ja!", rief ich und sprang aus dem Gestrüpp.

Ich wusste nicht, wieso dieser Schlüssel von mir gefunden werden wollte. Und ich wusste nicht, wieso ich dem wichtigsten Menschen in meinem Leben nicht erzählte, zu wem er gehörte. Aber es fühlte sich richtig an, ihn gefunden zu haben und zu wissen, wo ich seinen Besitzer finden würde. Immerhin wäre er ein guter Grund, ihn wieder zu treffen. Ein guter Grund, diesen Mann anzusprechen. Und der Gedanke an ein Wiedersehen war unglaublich schön. Ich wollte diese Vorfreude nicht zerstören, indem ich mit jemandem darüber redete.

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt