Seelenverwandtschaft

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"Echt? Wie war er so als Kind?", hörte ich Raffaele fragen.

Müde rieb ich mir über das Gesicht. Ich musste eingeschlafen sein. Nachdem Marco und Raffaele etwas aufgetaut waren, hatten sie sich super verstanden, weshalb wir doch einfach bei meinem besten Freund Zuhause geblieben waren. Stumm blieb ich auf dem Sofa liegen. Die beiden schienen in die Küche gegangen zu sein. Wahrscheinlich wollten sie mich nicht wecken. Lautlos seufzte ich auf und streichelte Marcos Katze. Eine von ihnen hatte sich zu mir gesellt.

"Er war ein anstrengendes Kind. Also wirklich! Komischerweise hat mich das aber nie gestört. Nics ist schnell wütend geworden und konnte nie teilen und hat dann immer rumgeschrien. Meistens hat er mich angebrüllt. Man fühlt sich echt ein bisschen blöd, wenn man andauernd von einem Knirps angeschnauzt wird."

Sprachen sie ernsthaft über mich?

"Sorry, aber das klingt echt lustig."

"Oh Gott. Das war es ganz und gar nicht. Ich hab ihn mir dann immer geschnappt und wir sind zum Parkhaus gelaufen. Ich hab ihm gesagt, dass er einfach vom Dach schreien soll, statt es an mir auszulassen. Immerhin war ich ja nie der Grund für seine Wut."

"Das tut er immer noch. Dabei hab ich ihn erwischt!"

"Es hat komischerweise wirklich geholfen."

"Tut es! Ich hab es auch probiert." Raffaele lachte auf. "War also eine gute Idee."

"Ansonsten konnte man ihn immer mit Essen beruhigen. Oder schick ihn ins Bett."

"Offensichtlich ist Schlafen seine Superkraft. Er schläft wirklich immer, wenn er bei mir ist. Außer er ist aufgedreht. Dann ist er tierisch nervig."

"Dann kannst du dich glücklich schätzen. Nics scheint sich in deiner Nähe wirklich wohl zu fühlen. Das ist schön."

"Hm... sieht so aus." Dem Italiener entwich ein verlegenes Kichern. "Ich finds echt süß. Erzähl mir mehr!"

"Gott... Lass mich überlegen." Sie lästerten ernsthaft über mich? "Als er klein war, wollte Nicolai immer theoretischer Abenteurer werden."

"Was ist ein theoretischer Abenteurer?"

"Das hab ich ihn auch gefragt. Und dann haben wir uns zusammen auf sein Bett gelegt und haben davon geträumt, dass wir auf Abenteuerreise gehen. Ich hab ihn gefragt, wieso er denn nicht auf richte Entdeckungen geht und da meinte er, dass er viel zu viel Angst hätte. Es gab ja schließlich viel zu viele gefährliche Tiere oder er könnte hinfallen. Und das träumen würde ihm reichen, weil es sich real genug anfühlt. Wir haben ganz viele solcher Gedankenreisen gemacht. Das war seine Lieblingsbeschäftigung."

"Das klingt irgendwie cool."

"Vielleicht nimmt er dich auch mal mit. Er denkt sich die besten Reisen aus. Damals hat er sogar richtige Traum-Reiseführer geschrieben und gemalt. Na ja und so konnte ich ihn beschäftigen, wenn ich gearbeitet hab."

"Also warst du sowas wie sein Babysitter?"

"Das würde ich nicht behaupten. Klar, ich hab auf ihn aufgepasst. Aber ich würde nicht sagen, dass ich sein Babysitter war."

"Wieso hast du auf ihn aufgepasst?"

"Na ja... es war nicht immer einfach mit seiner Mutter. Das sollte er dir allerdings selbst erzählen, wenn er das möchte. Er hat mit seiner Mutter direkt gegenüber gewohnt und sie hatte wenig Zeit, weil sie viel arbeiten musste. Ich hatte wesentlich mehr Zeit und er war nicht im Kindergarten oder so. Also hab ich ihn bei mir behalten, um seiner Mutter unter die Arme zu greifen."

"Hat dich das nicht gestört? Ist seine Mutter eine gute Freundin von dir oder so? Weil verwandt bist du ja nicht mit ihm."

"Weißt du..." Marco lachte auf, schwieg einen Augenblick. "Das klingt total bescheuert und bitte denk nichts falsches. Aber ich hab mich ihm von der ersten Sekunde an verbunden gefühlt. Ich hab ihn und seine Ma am Tag seiner Geburt kennengelernt. Sie hatte bei mir geklopft wie eine Irre. Mein Leben war ziemlich am Ende und dann stand da dieses Mädel vor meiner Tür mit einem Baby im Anmarsch. Wir haben uns gegenseitig angeschrien, weil wir beide völlig überfordert waren. Ich hab den Notarzt gerufen, aber dann ging alles so schnell, dass sie ihren Sohn einfach auf meiner Couch zur Welt gebracht hat." Mir wurde ganz warm in der Brust. Zwar hatte ich diese Geschichte schon unzählige Male gehört, doch liebte ich sie so sehr, dass ich nie müde wurde, ihr zu lauschen. "Und weißt du", sprach mein bester Freund weiter. "Ich war der erste, der dieses... Nervenbündel auf dem Arm gehalten hatte. Das klingt total bescheuert..." Ich hörte, dass seine Stimmung brach. Das war neu. "Ich war wirklich fertig mit der Welt. Also wirklich fertig. Aber als ich dieses Wesen auf dem Arm hielt, schien plötzlich wieder die Sonne. Ich hab gespürt, dass dieser kleine Junge mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. Der Himmel hatte mir einen Schutzengel geschickt, der mich davor bewahrt hatte, etwas wirklich dummes zu tun. Nics... war im richtigen Moment am richtigen Ort gewesen, um mir... Er hat mir das Leben gerettet." Diesen Teil der Geschichte hatte ich noch nie gehört. Es schnürte mir die Luft ab. Tränen brannten in meinen Augen. "Das klingt echt blöd. Er war gerade ein paar Sekunden alt. Der Kleine hat nur gequakt und konnte kaum die Äugeln aufmachen, aber ich wusste, dass wir zusammengehören. Nicht auf so eine merkwürdige oder kranke Art und Weise. Es war, als wären unsere Seelen miteinander verknüpft. Uns verband ein roter Faden. Aber nicht so, wie er zwei Liebende verband, verstehst du? Er ist mein Seelenverwandter. Meine bessere Hälfte. Nicolai Niemand ist der Mensch, ohne den ich unvollständig wäre. Ich würde niemals auf die Idee kommen, ihn mit den Augen eines Vaters oder Verwandten oder eines Liebhabers oder keine Ahnung was sehen. Mir fallen gar keine Wörter ein, um diese Verbundenheit zu beschreiben. Er ist mein bester Freund. Seit er seinen ersten Atemzug genommen hatte. Das klingt so blöd... Und als hätte ich ihn dazu gezwungen oder so. Aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich sogar versucht hab, dieses Gefühl loszuwerden. Vergeblich und ich bin froh, dass es nie weggegangen ist. Ich bereue keine Sekunde, die ich mit diesem ganz besonderen Menschen verbracht hab. Denn das ist er. Etwas ganz besonderes. Der wichtigste Mensch in meinem Leben. Mein Retter und Zuhörer und Reisebegleiter. Ein besseres Wesen hätte Gott, wenn es einen gibt, mir damals nicht schicken können. Ich bin so unbeschreiblich glücklich, dass ich ihn meinen besten Freund nennen darf. Dass er nie die Nase voll von mir hat und ich ihm genauso wichtig zu sein scheine, wie er mir."

Ich hielt es nicht länger aus, wischte mir schniefend über das Gesicht, als ich mich erhob und zu ihnen in die Küche tapste. Ohne ein Wort schlang ich meine Arme von hinten um den alten Sack und drückte ihn, so fest ich konnte, an meine Brust. "Du bist auch das beste, was mir passieren konnte..." Ich klang jämmerlich. Ohne ihn hätte ich vielleicht nie das Licht der Welt erblick. Ich verdankte ihm also wahrscheinlich auch mein Leben. Ich fühlte etwas für diesen Menschen, das so viel größer und wichtiger war, als die Liebe, die ich für einen Partner oder meine Familie fühlte.

Raffaele saß uns nur stumm gegenüber und wischte sich eine einzelne Träne von der Wange.

Niemand [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt