Schmunzelnd wickelte ich die Decke enger um meinen kleinen Bruder, der an meinen angewinkelten Beinen lehnte und eingeschlafen war. Er war ein Kuschelkind und obwohl ich immer so gemein zu ihm war, suchte er immer wieder meine Nähe. Und manchmal war ich auch nicht der blöde große Bruder und ließ es einfach zu. Immerhin war es eigentlich ganz süß, dass er so kuschelig war. In der Hinsicht waren wir uns doch recht ähnlich.
Ich hob meinen Kopf von der Sitzfläche des Sofas, als ich die Haustür hörte. "Nics?"
"Wohnzimmer." Ich versuchte leise zu sein, um Leo nicht zu wecken.
Er sah etwas verwundert aus, als er um die Ecke trat. Allerdings verschwand sein Fragezeichen schnell und er betrachtete lächelnd die Situation. Leo und ich hockten vor der Couch, auf der unsere Eltern saßen. Es war lang her gewesen, dass es einen Familienabend gab. Wir hatten es ganz spontan beschlossen, nachdem mein Stiefvater und sein Sohn vom Ausflug heim kamen und Mama und ich bereits auf dem Sofa saßen und Filme schauten. Mir ging es nach dem Gespräch wirklich unglaublich gut. Ich wollte jede Sekunde mit meiner Familie genießen, nachdem ich sie so lang auf Abstand gehalten hatte. Ich hätte dieses gute Gefühl viel früher haben können. Aber ich musste unbedingt stur sein. Und wer wusste schon, ob es genauso gut geworden wäre, wenn wir früher geredet hätten. Ich war einfach glücklich, dass wir das, was zwischen uns lag, aus dem Weg räumen konnten.
"Doch nicht ins Kino?", fragte Marco schmunzelnd und schoss ein Familienfoto.
Leicht schüttelte ich den Kopf, zog die Decke enger um mich
"Mein Lieber, in der Küche steht noch ein bisschen Auflauf. Nimm dir was und setzt dich zu uns", bot mein Vater ihm an.
"Na dazu sag ich nicht nein." Er ging zu ihnen rüber und kuddelte die beiden etwas umständlich. Immerhin lagen Leo und ich vor dem Sofa und versperrten etwas den Weg. "Hallo, ihr zwei." Er gab meine Mutter ein Küsschen auf die Wange. "Ist schön, euch alle so zusammen zu sehen." Marco sprach leise, doch hörte ich jedes Wort, obwohl der Film im Hintergrund lief. Kurz verschwand er in die Küche, um sich einen Teller mit den Resten vom Abendessen zu holen, ehe er sich ächzend neben mich auf den Boden sinken ließ. Von einem alten Herrn, wie ihm, hätte man erwartet, dass er sich auf den Sessel pflanzen würde. Aber ich fand es schön, dass er es vorzog, seinem besten Freund auf dem Boden Gesellschaft zu leisen. "Hier, Kleiner." Grinsend reichte er mir eine Gabel. Er wusste, dass ich so oder so von seinem Teller genascht hätte.
"Danke." Ich erwiderte sein Grinsen und nahm die Gabel mit unter die Decke, damit meine Hand nicht kalt wurde, bis ich das Bedürfnis hatte, etwas zu essen.
"Hey, Schlafmütze." Marco griff über meine Knie und wuschelte den blonden Schopf.
Mein kleiner Brüder glubschte verschlafen zu uns nach hinten, lächelte träge. "Hallo, alter Mann." Marco hatte auch das Herz des Grundschülers bereits in der ersten Sekunde erobert. Wie hätte es auch anders sein können? Dieser bärtige Kerl war einfach großartig. Liebevoll und lustig. Er behandelte auch Kinder einfach wie Menschen und wurde so ganz einfach zum Helden meines kleinen Bruders. Denn das war Marco. Ein Held. Für diese ganze Familie war er etwas ganz besonderes. Er war wahrscheinlich der beste Mensch, dem ich jemals begegnen würde.
Ich betrachtete den Vollbart, der langsam grau wurde. Was würde ich nur ohne ihn tun? Mein Blick wanderte über die anderen drei, die um mich herum saßen. Was würde ich ohne sie alle tun? "Ich hab euch alle ganz doll lieb...!" Verlegen grinsend streckte ich meine Arme in die Luft.
"Wir dich auch, mein Spatz." Meine Mutter strich mir durch die Locken.
Marco legte seinen Arm um mich und drückte mich an sich. "Schön, dass du zur Vernunft gekommen bist, Nics."
Ich grinste ihn breit an, klaute etwas Auflauf von seinem Teller. "Das nächste Mal..." Mir stieg die Röte ins Gesicht. "Das nächste Mal, möchte ich noch jemanden einladen, wenn das okay ist..."
"Deine Freundin?", fragte Mama.
"Die beiden sind schon ewig nicht mehr zusammen." Mein Stiefvater sah seine Frau etwas verwirrt an. "Schon vor euren Streit nicht mehr."
"Was?!"
"Wusstest du das nicht?", fragte auch mein bester Freund verwundert.
"Er hat deswegen die ganze Zeit geheult." Ich gab Leo dafür einen Klaps auf den Hinterkopf. "Aua! Ist doch so!"
"Du hast mir wohl noch ganz viel zu erzählen, Nici."
"Ich erzähl dir bald alles", versprach ich.
"Und wen willst du dann dabei haben?", fragte Papa neugierig.
"Raffaele?" Marco wackelte schmunzelnd mit den Augenbrauen. "Ich kenn ihn auch noch nicht!" Es klang wie ein Vorwurf. Aber ich wusste, dass er einfach nur selbst unglaublich neugierig war. Immerhin kannte er die ganze Geschichte mit dem Italiener.
"Jap..." Ich knabberte an der Haut meiner Fingerkuppe. "Also... wenn er möchte." Der Gedanke, dass er sich mit meinen Lieben verstehen würde, erwärmte mir das Herz. Es wäre wirklich schön, sie alle gemeinsam Lachen zu sehen. Dass sie sich gegenseitig akzeptierten und mochten. Bei meiner Ex-Freundin hatte das zwar auch wunderbar geklappt, doch war es mit Raffaele etwas ganz anderes. Es war mir viel wichtiger. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn sie sich nicht verstehen. Was, wenn sie ihn nicht mochten? Störte es sie, dass er ein Mann war?
"Es wäre uns eine Ehre, ihn kennenzulernen." Ich sah auf, direkt in das Strahlen meiner Mutter. Liebevoll drückte sie mir die Schulter. "Er scheint dir ja sehr wichtig zu sein. Und ich möchte unbedingt mehr über ihn erfahren."
Marco legte seine Hand auf meinen Kopf, während mein Stiefvater sprach. "Und mach dir mal keine Gedanken. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die Tatsache, dass er anscheinend ein Junge oder ein Mann ist, rein gar nichts an unserer Liebe zu dir ändert." Wie immer schien der perfekte Vater in meinen Kopf schauen zu können. Er fing meine Sorgen ein und sprach sie behutsam aus. Vorsichtig und immer darauf bedacht, mir nicht wehzutun. Mir tat es schrecklich leid, dass ich ihn all die Jahre genau deswegen so sehr hassen wollte.
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, welche Sexualität ich hatte. Es war mir ganz einfach immer egal gewesen. Ich wollte offen sein für alles, was kommen mochte. Deshalb hatte ich mir die Gedanken gemacht, mich vielleicht irgendwann outen zu müssen. Jemandem zu sagen, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte, obwohl ich selbst einer war. Es war wie bei Allem. Ich war den unangenehmen Gedanken aus dem Weg gegangen. Offensichtlich wären meine Ängste sowieso völlig unbegründet gewesen. Wahrscheinlich würde nicht jeder so reagieren, wie meine Familie, und es gab sicherlich Situationen, die nicht leicht werden würden. Doch das war ganz egal, solang ich wusste, dass ich Zuhause so akzeptiert wurde, wie ich eben war.
Leo beugte sich über meine angewinkelten Knie und wischte mir mit seinem Plüschtier die Tränen weg. "Was sollte sich denn daran auch ändern?"
Ich musste lachen, wischte mir schniefend über das Gesicht. Ein Danke steckte mir im Hals fest, doch war das wohl sowieso überflüssig. "Ihr seid die besten..."
Dieser Tag hatte so viele Worte gebracht. Worte aus meinem Mund und Worte aus den Mündern der anderen. Sie brachten so viel mehr Klarheit in meinen Kopf. Licht ins Dunkle. Ordnung in mein Chaos. Mein Herz fühlte sich nicht mehr so schwer an. Mein Rücken war keine Zielscheibe mehr für all das Negative. Denn dort standen Menschen, die ihn deckten. Sie standen hinter mir, wenn ich es selbst nicht tat. Sogar, wenn ich sie unfair behandelte, obwohl sie es ganz sicher nicht verdient hatten. Sie waren immer an meiner Seite und hoffentlich würden sie dort auch immer bleiben. Meine Familie. Meine Lieblingsmenschen. Ich würde ihnen Allen mein Leben anvertrauen, mich blind in ihre Arme fallen lassen, denn ich wusste, dass sie da waren, um mich aufzufangen. Das machte mich unglaublich glücklich. Ich bekam das Gefühl, stark zu sein. Stark, nachdem ich so lange schwach war.
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Niemand [boyxboy]
RomanceEin Niemand. So wird er von anderen behandelt. Und so behandelt er sich vor allem selbst. Denn er ist ein Niemand. Nic Niemand. Sein Nachname bestimmt sein ganzes Leben, bis ein Mensch in sein Leben tritt, der ihm zeigt, dass er ein Jemand ist.